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»Die Gesundheit zuerst«
Argentiniens Regierung hat trotz früher Gegenmaßnahmen mit steigenden Corona-Infektionszahlen zu kämpfen
Nach 100 Tagen Quarantäne sind die Argentinier der Isolation müde. Zugleich greift die Furcht vor dem sozialen Abstieg durch den Shutdown immer weiter um sich. Gegenwärtig steigt die Zahl der Geschäfts- und Betriebsschließungen schneller als die Zahl der Corona-Infizierten. Klar ist schon jetzt, dass Argentinien am Ende der Pandemie wirtschaftlich und sozial schwer angeschlagen dastehen wird. So prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) für das laufende Jahr einen Wirtschaftseinbruch von zehn Prozent, und nach den Berechnungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) könnten bis zu 850 000 Arbeitsplätze verloren gehen.
»Primero la salud - die Gesundheit zuerst« war und ist das Credo von Argentiniens Präsident Alberto Fernández. Ohne Zögern hatte er auf das Erscheinen des Coronavirus reagiert. Am 12. März ließ er die Grenzen schließen, am 16. März die Schulen, und am 20. März stellte er das Land unter Quarantäne. Da waren gerade mal 128 Infizierte registriert. Der positive Effekt: Die Kurve blieb flach, und mit dem Zeitgewinn wurde das Gesundheitssystem so gut es eben ging, coronafester gemacht. Hatte sich anfangs die Zahl der Infizierten etwa alle drei Tage verdoppelt, dauert dies gegenwärtig etwa 20 Tage. Mit etwa 58 000 Infizierten und 1217 Toten kam Argentinien im regionalen Vergleich bisher glimpflich davon. Für die Panamerikanische Gesundheitsorganisation ist das Vorgehen des Präsidenten »vorbildlich in der Region«.
Spät wurde jedoch mit »Testen - Tracken - Isolieren« begonnen. Erst als die Armenviertel in und um Buenos Aires sich zu Hotspots zu entwickeln drohten, wurde ernsthaft mit dieser Praxis begonnen. Häusliche Quarantäne ist dort wegen der Enge nahezu unmöglich, und das Fehlen einer Basisversorgung, wie schlicht fließendes Wasser zum Händewaschen, macht alles noch schlimmer. Zwei solcher Viertel wurden vorübergehend abgeriegelt, und das Wort von der Gettoisierung machte die Runde. Inzwischen hat sich die Lage in den Armenvierteln etwas beruhigt.
Schon vor der Pandemie galt jeder dritte Argentinier als arm. Viele leben von Gelegenheitsjobs ohne jegliche soziale Absicherung. Wer keine dieser sogenannten Changas macht, hat schnell kein Geld für sich und seine Familie. Umgerechnet 130 Euro Nothilfe hatte die Regierung jedem Betroffenen zugesagt. Neun Millionen hatten ihren Anspruch angemeldet. Damit wurde das Nothilfe-Programm zugleich zur ersten aussagekräftigen Erhebung über den informellen Sektor. »Mit dem IFE-Programm haben wir herausgefunden, dass neun Millionen Argentinier außerhalb des Systems sind«, so Sozialminister Daniel Arroyo. In den kommenden Tagen wird das Notgeld zum dritten Mal ausgezahlt werden.
Kaum war die Quarantäne etwas gelockert, stiegen in den Vierteln der Mittel- und Oberschicht die Mobilität und die Zahl der Neuinfektionen. Deshalb hat Präsident Fernández vergangenen Freitag eine Verschärfung der Quarantäne für die Hauptstadt und den Großraum Buenos Aires bis zum 17. Juli angeordnet. In der Área Metropolitana leben 16 Millionen der 45 Millionen Argentinier. Und hier sind rund 90 Prozent der Infektionsfälle des gesamten Landes registriert.
Bisher hält sich die politische Opposition mit Kritik an den Maßnahmen zurück. Der konservative Hauptstadtbürgermeister Horacio Rodríguez Larreta gehört der Partei des ehemaligen neoliberalen Präsidenten Mauricio Macri an, und Provinzgouverneur Axel Kicillof zählt zum linken Flügel der Peronistischen Partei, der auch der gemäßigt-linke Präsident Fernández angehört. Von Beginn an hatte der Präsident den Konsens mit dem Bürgermeister und dem Provinzgouverneur gesucht und sie in die Entscheidungen eingebunden. Bisher wurden alle Anordnungen wie von einem Triumvirat öffentlich verkündet. Fragt sich, wie lange die Argentinier die Quarantäne und den Shutdown noch aushalten.
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