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- Coronavirus und Bildungsgerechtigkeit
Kampf um die Klassenzimmer
Thomas Gesterkamp über den Lockdown als Katalysator von Bildungsungerechtigkeit
Die Coronakrise hat eindrücklich demonstriert, dass Schulen nicht nur Lernzielen dienen. Wie die Kitas haben sie auch eine Betreuungsfunktion, die Voll- oder zumindest Teilzeiterwerbsarbeit beider Elternteile erst ermöglicht. Die Kombination von Homeoffice und Homeschooling überforderte viele, vor allem oft Mütter. Der lauter werdende Ruf nach vollständiger Öffnung von Schulen und Kitas ist ein Ausdruck der Zermürbung, denn aus ein paar Wochen Ausnahme- droht ein Dauerzustand zu werden. Verstärkt haben die Unsicherheit Politiker wie Karl Lauterbach, der sich als warnender Epidemiologe profiliert und als Sozialdemokrat die psychosozialen Folgen des Lockdowns weitgehend ignoriert. Wenn er jüngst raunt, es werde ein Jahr lang keine Regelbeschulung geben, erzeugt das Hoffnungslosigkeit.
Teils gibt es wieder Präsenzunterricht, mit Schwerpunkt auf Grundschulen und regional sehr verschieden. Doch in vielen Bundesländern haben die Ferien schon angefangen, anderswo stehen sie direkt vor der Tür. Nur Bayern und Baden-Württemberg haben noch bis Ende Juli Zeit für das »Re-Schooling«. Die anfangs diskutierte Verschiebung der Ferien auch in anderen Ländern haben die Kultusminister früh verworfen. So oder so ist auch im kommenden Schuljahr Normalität zunächst kaum in Sicht.
Das lässt und ließ sich im Eigenheim leichter aushalten. Der digitale Fernunterricht hat die ohnehin gravierenden sozialen Unterschiede verschärft. In beengten Verhältnissen lernt es sich schlechter, Ausweichmöglichkeiten wie Stadtbibliotheken waren zeitweise geschlossen oder konnten nicht zum gemeinsamen Arbeiten dienen. Geeignete Endgeräte sind in vielen benachteiligten Familien kaum vorhanden - etwa Tastaturen oder Drucker, zuweilen fehlen schon Mailadressen. Die vom Bund aufgrund von Corona kurzfristig zugesagte Förderung enthält nun auch Zuschüsse von - eher mageren - 150 Euro für bedürftige Schülerinnen und Schüler. Doch das Gros der Gelder aus dem »Digitalpakt« von 2019 fließt erst in kommenden Jahren. Zudem liegt der Schwerpunkt auf Lernsoftware. Das hilft vor allem Kindern, die über Computer, WLAN und ein eigenes Zimmer verfügen.
Noch schwerer wiegt das »kulturelle Kapital«. Zwar garantieren Abitur oder Uniabschluss keine kompetente Pädagogik. Doch können Studierte ihre Kinder meist besser unterstützen. Lehrkräfte in »Problemvierteln« beobachten bereits, dass die Sprachkompetenz etwa der Kinder von Geflüchteten seit März sinkt.
Auf die Folgen für Bildungsgerechtigkeit und Qualifikation hat früh eine Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft hingewiesen: Nur 15 Prozent der Zwölfjährigen und 27 Prozent der 14-Jährigen aus Hartz-IV-Haushalten können einen eigenen Rechner nutzen, die Versorgung mit Büchern sei unzureichend. Autor Axel Plünnecke regt »Chancenbeauftragte« in den Schulen an, die sich speziell um Kinder kümmern, die im Lockdown zurückgefallen sind. Diese müssten auch zuerst in die Schule dürfen.
Bemerkenswert, dass ein neoliberal orientiertes Institut dringender vor vertiefter Spaltung warnt als ein sozialdemokratischer Mediziner mit einseitigem Virologenblick. Mit der allmählichen Schulrückkehr beginnt eine brisante Verteilungsdebatte: der Kampf um die Klassenzimmer. Wer hat Vorrang, darf wann und wie oft kommen? Warum sind Abiprüfungen wichtiger als die Bildungschancen migrantischer Kinder? Wo es an Technik und kompetenter Begleitung gemangelt habe, sagen viele Lehrkräfte, sind in der Hochphase der Pandemie erhebliche Defizite entstanden. Auch die nun zuweilen angebotenen Ferienkurse können das nicht ausgleichen. Denn benachteiligte Kinder sind besonders angewiesen auf persönlichen Kontakt und beziehungsorientiertes Lernen, das digital nur begrenzt funktioniert.
Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat Thomas Gesterkamp eine ausführliche Recherche zum Thema »Schule in Zeiten der Pandemie« erstellt, die als Online-Publikation erschienen ist. Abrufbar unter: kurzelinks.de/reschooling
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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