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Mehr Bio für die Massen

Die Berliner Ernährungsstrategie setzt auf gesunde, ökologische Kantinen- und Schulkost.

  • Tim Zülch
  • Lesedauer: 5 Min.

Ich jage teilweise meiner Ware hinterher, dass es eine Katastrophe ist», berichtet Dorothee Tüshaus von der Zwergenkantine in Schöneiche bei Berlin (Landkreis Oder-Spree). Die Unternehmerin produziert im Normalfall täglich 900 Portionen Bio-Essen für Berliner und Brandenburger Schüler*innen und Kitakinder. Wegen der Coronakrise hat sie einen massiven Einbruch verzeichnen und ihr Unternehmen zeitweise schließen müssen. Nun gehe es langsam wieder los, auch wenn sie noch nicht beim Normalbetrieb angelangt sei. Aktuell allerdings hat sie ein anderes Problem: «Seit drei Wochen schon bekomme ich fast keine geschälten Kartoffeln mehr aus der Region. Auch mein Großhändler sagt, dass die Vorräte zur Neige gehen und die diesjährige Ernte noch nicht da sei». Bei anderem Gemüse sei es ähnlich, sagt sie: «Gurken sind mittlerweile so teuer, dass ich sie mir schon fast nicht mehr leisten kann.»

Ökologisches Gemüse hat durch die Coronakrise einen wahren Boom erlebt. «Während der gesamte Einzelhandel im ersten Quartal 2020 ein Umsatzwachstum von 8,6 Prozent hatte, legte laut Berechnungen der Agrarmarkt Informations-Gesellschaft (AMI) der Bio-Umsatz über alle Verkaufsstätten um 27,4 Prozent zu», teilte etwa die Fördergemeinschaft Ökologischer Landbau Berlin-Brandenburg (FÖL) vor wenigen Tagen mit. Der Verband vermutet, dass «zwangsläufig mehr zu Hause gekocht wurde» und deshalb «die Verbraucher verhältnismäßig mehr Bio einkauften».

Dass der Bio-Anteil beim Berliner Essen weiter steigen soll, hat sich der Senat schon im Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt und jüngst eine sogenannte Ernährungsstrategie verabschiedet. Vor allem beim Kantinenessen und in der Gemeinschaftsverpflegung soll der Bio-Anteil auf mindestens 50 Prozent steigen. Verbraucherschutzsenator Dirk Behrendt (Grüne) erklärte zu den Plänen: «Die Ernährungsstrategie bildet die Grundlage dafür, möglichst allen Berlinerinnen und Berlinern den Zugang zu regionalen und biologischen Lebensmitteln zu ermöglichen. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die Menschen verstärkt auf frische und regionale Lebensmittel von den Wochenmärkten zurückgegriffen haben.»

«In den Kantinen ist das Handwerk weitgehend verschwunden. Fertig- und Halbfertigprodukte haben Einzug gehalten. Köche sind dadurch oft zu reinen Tütenaufschneidern geworden», konstatiert Philipp Stierand von der «Speiseräume Forschungs- und Beratungsgesellschaft», Projektleiter der «Kantine Zukunft Berlin» und Dozent an der Dualen Hochschule Heilbronn für Agrar- und Ernährungspolitik. Seit Jahren setzt er sich für tragfähige Konzepte zur gesunden und nachhaltigen Essensversorgung ein. Mit der vom Berliner Senat in Anlehnung an das Kopenhagener «House of Food» konzipierten und im Oktober vergangenen Jahres gestarteten «Kantine Zukunft» sieht er die Möglichkeit, seinen Beitrag für eine neue Kochkultur in Berliner Kantinen zu leisten.

Stierand berät Kantinenköche bei der Umstellung auf biologisches Essen. Ein wichtiger Aspekt dabei sei, die Zubereitung von unverarbeitetem Gemüse in den Kantinen neu zu etablieren. Dann sei es durchaus möglich, Bio-Essen ohne größere Mehrkosten anzubieten, ist Stierand überzeugt und verweist auf die Erfahrungen im Kopenhagener «House of Food».

Nach einigen Monaten coronabedingter Verzögerung gehe die eigentliche Arbeit nun im Sommer los, freut er sich. Elf Berliner Kantinen stehen auf seiner Beratungsliste. Darunter drei landeseigene Betriebe (BVG, Berliner Wasserbetriebe und BSR) sowie zwei große Kitaträger. «Wir begleiten die Kantinen sechs Monate lang und stellen dabei quasi die ganze Küche auf den Kopf», so der Ernährungsexperte. Teilweise müssten neue Gerätschaften angeschafft werden, vergessene Techniken wieder erlernt und neue Speisepläne gestaltet werden. Professionelle Unterstützung bekommt er unter anderem von Patrick Wodni, Küchenleiter in einer Großküche mit Passion für gesundes und ökologisches Essen.

«60 Prozent Bio ist das Ziel», erklärt Stierand. Ein Ziel, das durchaus nicht leicht zu erreichen ist. «Die Budgets einiger Kantinen sind sehr eng. In Krankenhäusern werden oft nur vier oder fünf Euro pro Patient am Tag kalkuliert.» Aus diesem Grund müssten wohl bei der Regionalität Abstriche gemacht werden. «Brandenburg wird nicht das große Gemüseland werden», so Stierand.

Tatsächlich sind die Gemüseanbauflächen in Brandenburg zu klein, die Sommer zu trocken und die Bauern teilweise nicht gewillt umzustellen. «Nicht einmal 25 Prozent des Berliner Obst- und Gemüsebedarfs werden aus Brandenburg gedeckt. Im Bio-Anbau klafft die Versorgungslücke noch weiter», heißt es seitens der FÖL. Das habe geschichtliche Gründe, sagt FÖL-Geschäftsführer Michael Wimmer zu «nd»: «Mit der Wiedervereinigung sind Struktur, Know-how und Lieferbeziehungen der DDR über Nacht in die Tonne getreten worden. Das holt uns jetzt ein.» Brandenburger Bauern hätten sich seitdem am Weltmarkt ausgerichtet und nicht gelernt, auf den Berliner Markt zu schauen. Die FÖL berät aktuell im Rahmen eines EU-Projekts Brandenburger Bauern gezielt in Richtung Gemüseanbau. Vor allem der Anbau von Bio-Kartoffeln und -Möhren solle ausgeweitet werden, so Wimmer, der mit seinem Verband auch die Supermarktkette Bio Company vertritt.

Auch Frank Nadler vom Ernährungsrat Berlin sieht in dieser Hinsicht durchaus Potenzial. Allerdings bräuchte es langfristige Abnahmegarantien für die Bauern. «Nur aufgrund von Absichtserklärungen stellt kein Bauer um», konstatiert er. Außerdem seien die Abnahmepreise für eine seriöse Kalkulation zu niedrig. «Die großen Lebensmittelkonzerne signalisieren Interesse an bio-regionalen Produkten, haben dann aber Preisvorstellungen wie für eine Gurke aus Almería - so funktioniert es nicht.» Mit dem Kantinenessen und der Schulverpflegung allerdings habe Berlin einen «riesigen Hebel», den man nutzen könne, um Brandenburger Bauern für den Gemüseanbau zu motivieren, so Nadler. «Öffentliche Kantinen in der Verwaltung sind teilweise noch bei null. Hier könnte der Senat sofort handeln.»

Dass die Umstellung allerdings gar nicht so einfach ist, berichtet Vivien Finke, Betriebsleiterin in der Kantine der Berliner Wasserbetriebe. Hier gibt es bereits seit Jahren einen «Klimateller» und immer donnerstags ein Bio-Gericht auf dem Speiseplan. «Am Anfang war ich etwas naiv, aber ich habe gelernt: Es ist wichtig, dass so eine Umstellung in den Köpfen der Kollegen reift. Die müssen das Bio-Essen mit Überzeugung verkaufen und dadurch die Kunden mitnehmen.» Sie hat auch erlebt, dass eigentlich tolle Bio-Produkte nicht immer von den Gästen angenommen werden. «Wir hatten mal Eis aus Reismilch, das haben wir letztlich selbst gegessen», erinnert sie sich.

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