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Rechte Kameraden, rechtes Netzwerk
Lübcke-Mord: Stephan Ernst ist in die rechte Szene eingebettet.
Warum einen Mord gestehen, wenn es nur ein Unfall war? Die zwei Geständnisse von Stephan Ernst, der den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordet haben soll, werfen so viele Fragen auf, wie sie beantworten. Im Prozess, der am 16. Juni vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main begonnen hat, wurden drei Vernehmungsvideos von Ernst gezeigt: ein widerrufenes Geständnis vom Juni 2019 - drei Wochen nach der Tat, eines vom Januar 2020 und eine ergänzende Vernehmung vom Februar 2020.
Im ersten Geständnis nahm Ernst den Mord auf sich und - so scheint es - hielt den Mitangeklagten Markus H. bewusst aus der Tatvorbereitung und der Tat selbst heraus. Im zweiten Geständnis schiebt er alle Schuld auf H. - er habe das Thema immer wieder aufgebracht, er habe Ernst angestachelt, er habe die Idee für das Vorgehen gehabt, er habe Ernst gesagt, er solle die spätere Tatwaffe - zwecks Bedrohung - mitnehmen, er habe die Waffe gehalten, aus der sich letztlich versehentlich ein Schuss gelöst habe.
Im ersten Geständnis ist Ernst ohne anwaltliche Begleitung, er spricht meist flüssig und frei, wird emotional. Im zweiten wird er von seinem neuen Anwalt begleitet, liest zunächst eine Erklärung ab, ist nüchtern, eher wortkarg, lässt sich vieles von seinem Anwalt vorsagen und stimmt nur mit kurzem »ja, das stimmt« den Ausführungen zu. Die Staatsanwaltschaft hält das zweite Geständnis für unglaubwürdig und stützt ihre Anklage auf das erste. Doch unvollständig erscheinen beide.
Mit dem ersten habe er alle Schuld auf sich nehmen wollen, sagt Ernst. Er wollte nicht, dass die Gerüchte über Verbindungen zum NSU oder zu einem rechten Netzwerk unterfüttert werden. Deshalb stellt er sich als Einzeltäter vor, will als »Psychonazi« wirken, wie er sagt. Im zweiten fordert ihn vor allem sein Anwalt auf, alles zu sagen, was H. belaste. Polizei und Staatsanwaltschaft fragen außerdem Verbindungen zu anderen Neonazis im Raum Kassel und Umgebung ab. Die meisten bestätigt Ernst zu kennen - behauptet aber, die Bekanntschaften seien nur flüchtig.
S. sei ein Freund von H. gewesen, er selbst habe dessen Telefonnummer nur, weil der vermittelt über H. mal etwas bei ihm abgeholt habe. Karl-Heinz Hoffmann, Anführer der »Wehrsportgruppe« kenne er nur von dessen Youtube-Kanal, einmal habe er ihm geschrieben. Er kenne außerdem jemanden, der Hoffmann kenne. Bernd T. habe ihn mal von einer Demonstration mit nach Hause genommen, Stanley R. kenne er aus der Freien Kameradschaftsszene. Mit einem anderen habe er an einer Demonstration in Dortmund teilgenommen, »wo es zu Ausschreitungen kam« - ein Euphemismus dafür, dass etwa 300 Neonazis mit Holzstangen und Steinen eine 1.-Mai-Demo des DGB angriffen. Einen anderen kannte er vom Flohmarkt. Christian W. habe ihn im Gefängnis kontaktiert, dessen Stiefbruder Benjamin Gärtner kannte Ernst. Gärtner war V-Mann des Verfassungsschutzes. Er hat zwei Berichte über Ernst verfasst, die im NSU-Geheimbericht des hessischen Verfassungsschutzes erwähnt werden. Der vernehmende Polizist fragt Ernst, ob er oder H. mit dem NSU zu tun hatten. Nein, und bei H. wisse er es nicht.
Zwischen 2009 und 2010 hat sich Ernst angeblich von den Kameraden, der Kasseler Neonaziszene, zurückgezogen. Ihr Rassismus und Antisemitismus habe ihn abgeschreckt. »Das mag widersprüchlich klingen, aber das war mir zu extrem«, erklärt er und fügt an: »Nichtsdestotrotz war ich patriotisch gesinnt.« Einen Mann iranischer Herkunft nennt er seinen Freund, der habe davor gewarnt, dass sich Deutschland mit den Flüchtlingen IS-Terroristen ins Land hole.
Zehnmal will Ernst bei AfD-Stammtischen gewesen sein - immer zusammen mit H. Einmal spendete Ernst auch an die AfD, außerdem soll er - Medienberichten zufolge - Wahlplakate für die Partei geklebt haben. Ernst spricht im dritten Vernehmungsvideo auch von einer Spende an die Identitäre Bewegung (IB). Auch der Christchurch-Attentäter hatte Geld an die IB gespendet.
Eine Eingebundenheit von Ernst in die rechtsextreme Szene ist damit kaum zu bestreiten. Dass Ernst nicht mehr in der Kameradschaftsszene eingebettet gewesen sein will, wundert Sonja Brasch von NSU-Watch nicht. Mit zunehmendem Alter würden die Kameradschaftsstrukturen irrelevanter, sie seien aber für die Ideologiebildung und die Mobilisierung wichtig gewesen.
Bei Durchsuchungen des Hauses von Ernst wurden Personenlisten gefunden. Im Vernehmungsvideo spricht er von zwei Din-A4-Seiten, auf denen er Informationen über Menschen gesammelt habe, die er dem Antifa-Spektrum zurechnete. Die Listen habe er im Gefängnis angelegt - mit 21 Jahren wurde er zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt. »Wenn du rauskommst, rächst du dich«, habe er gedacht. Aber damals sei er in einer »Ausnahmesituation« gewesen, er habe die Listen gebraucht, »um die Haftzeit zu überstehen«. Und er habe sie ja nicht genutzt, später kaum noch angeschaut.
Gefunden wurden auch weitere Personenlisten der »Anti-Antifa-Arbeit«, wie Ernst sagte. Diese habe er zusammen mit anderen angelegt, Namen wollte er allerdings nicht nennen, schließlich gingen diese Leute ja »normalen Berufen nach«. Er bestätigte allerdings, dass auch H. dabei gewesen sei. Sie hätten damals politische Gegner in der Region Kassel ausspioniert. Tatsächlich fand die Polizei im Keller von Ernst einen USB-Stick, auf dem sowohl die beiden eingescannten Din-A4-Seiten gespeichert waren als auch die Anti-Antifa-Listen mit Informationen zu rund 60 Personen, darunter ein früherer Kasseler Geschichtslehrer, auf den 2003 geschossen worden war. Die Ermittlungen sollten nach dem Auffinden der Listen wieder aufgenommen werden, aber die Ermittlungsakten waren mittlerweile gelöscht worden.
Das Ausspähen politischer Gegner, das Anlegen von Dossiers mit Informationen über sie - der Staatsanwalt hält das für »Blaupausen« für den Mord an Lübcke, den Ernst schließlich mit den Methoden, die er jahrelang geübt habe, als »das perfekte Verbrechen« geplant und umgesetzt habe. Ernst widerspricht, »das perfekte Verbrechen« sei nicht das Ziel gewesen. Aber: »Es kann natürlich sein, dass da gewisse Gewohnheiten durchgekommen sind.« Er spricht von einem »Automatismus«, die übliche »Vorgehensweise« in seiner Anti-Antifa-Zeit.
Mehr Klärung könnte eine Aussage von Ernst bringen, die für Ende Juli oder Anfang August geplant ist. Nach drei Wochen Sommerpause soll der Prozess am 27. Juli wieder aufgenommen werden.
Lesen Sie auch: Interview mit Sonja Brasch von NSU-Watch Hessen
Alle Texte zum Lübcke-Prozess: dasnd.de/luebcke
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