- Wirtschaft und Umwelt
- Kohleausstieg
Corona drängt Kohle aus dem Netz
Stromerzeugung aus Solar- und Windenergie ist längst die kostengünstigste Alternative
Minus 39 Prozent - in der EU sind im Monat April die CO2-Emissionen aus der Stromerzeugung im Vergleich zum Vorjahr stark gesunken. Das lag an der Stromnachfrage, die im Zuge der Coronakrise um 14 Prozent zurückging. Zum größeren Teil ist diese Entwicklung aber auf den veränderten Strommix zurückzuführen. Der große Gewinner ist Solarstrom. Dank neuer Anlagen, die im vergangenen Jahr errichtet wurden, und dank des sonnigen Wetters ist hier die Stromerzeugung um 28 Prozent gestiegen.
Der größte Verlierer hingegen ist Braun- und Steinkohle: Hier brach die Stromproduktion um über 40 Prozent ein. Denn mittlerweile ist die klimaschädlichste fossile Energiequelle auch die teuerste. Bei der Erzeugung von einer Megawattstunde Kohlestrom wird rund eine Tonne CO2 emittiert. Dafür muss der Kraftwerksbetreiber ein Verschmutzungszertifikat kaufen. Diese Papiere kosten derzeit 25 Euro pro Tonne. Hinzu kommen die Kosten für die Kohleförderung.
Laut dem jüngsten Ausstiegsbeschluss soll das Zeitalter der Kohleverstromung in Deutschland noch bis Ende 2038 weitergehen. Allerdings geht es mit dem Sektor längst bergab: Im ersten Halbjahr 2020 schrumpfte die Produktion im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 45 Prozent, wie das Institut der deutschen Wirtschaft berechnete. Neben der geringeren Nachfrage durch die Corona-Maßnahmen, die gerade den besonders teuren Kohlestrom traf, war dafür auch das Wetter mitverantwortlich - viel Wind und Sonne verhalfen den erneuerbaren Energien zu einem höheren Anteil am Strommix.
Erfreulicher Nebeneffekt: Der deutsche Stromsektor pustete 16,6 Millionen Tonnen weniger CO2 in die Atmosphäre. Das Klimaschutz-Ziel für 2020 dürfte nach Einschätzung von Experten erreicht werden. Wie stark sich der Trend hin zu den Erneuerbaren fortsetzt, hängt vom Ausbau ihrer Kapazitäten sowie ihrer Speichermöglichkeiten ab. Der Netzbetreiber 50Hertz, der die Stromautobahnen in Ostdeutschland betreibt, hat ambitioniertere Pläne als die Regierung: Er will den Anteil der Erneuerbaren in seinem Netz von derzeit 60 Prozent auf 100 Prozent erhöhen - bis 2032.
Noch eiliger hat es Spanien. Anfang Juli wurden hier 7 der 15 existierenden Kohlekraftwerke stillgelegt. Die restlichen folgen nächstes Jahr oder spätestens 2025. KSte
Im Vergleich: Ein Gaskraftwerk kann derzeit eine Megawattstunde Strom für rund 20 Euro produzieren - alle Kosten inklusive. Das liegt auch am Gaspreis, der in den vergangenen beiden Jahren um zeitweilig zwei Drittel gefallen war, während sich der Preis für Kohle nur halbiert hat.
Am billigsten ist aber mittlerweile Solar- und Windstrom. Wenn eine Photovoltaikanlage oder ein Windrad einmal gebaut ist, fallen bei der Stromerzeugung fast keine weiteren Kosten mehr an. Da also die »Grenzkosten« bei nahe null liegen, ist erneuerbarer Strom eigentlich auch nicht mehr auf den Einspeisevorrang angewiesen - also die gesetzliche Regelung etwa in Deutschland, dass der Netzbetreiber bei einem Überangebot den Ökostrom bevorzugen muss. Da der Strom aus Anlagen der erneuerbaren Energien billiger als Fossilstrom ist, fallen auch außerhalb der EU die Rekorde: In den USA wurde an jedem Tag im April mehr Grün- als Kohlestrom produziert - das gab’s noch nie. Besser ist Großbritannien, wo seit über einem Monat überhaupt kein Kohlestrom mehr produziert wird. Selbst in Indien ging die Kohleverstromung im April um knapp ein Drittel zurück - mit erfreulichen Auswirkungen auf die Luftqualität in den smoggeplagten Großstädten. Letzteres könnte dafür sorgen, dass das Land nach der Krise nicht einfach zur alten Normalität bei der Stromerzeugung zurückkehrt. Anumita Chowdhury, Expertin für Luftverschmutzung beim Center for Science and Environment in Neu-Delhi, sagt: Die bessere Luftqualität sei »ein großes, unbeabsichtigtes Experiment«, das zeige, wie groß die erforderlichen Veränderungen seien. Gleichzeitig merkten die Menschen, »was es bedeutet, saubere Luft zu atmen«.
Der veränderte Strommix ist noch aus einem anderen Grund »eine Postkarte aus der Zukunft«, wie Michael Liebreich, Gründer des britischen Thinktanks Bnef, erläutert: Netzbetreiber rund um die Welt müssten lernen, mit einem deutlich höheren Anteil an Ökostrom klarzukommen, dessen Erzeugung starken Schwankungen unterliege. Braunkohle- und Atomkraftwerke seien besonders unflexibel, weshalb sie auch bei negativen Strompreisen an den Börsen oft weiterliefen.
Und das macht diese immer teurer. Die Zahl der Stunden mit negativen Preisen ist bereits stark gestiegen: Deutschland verzeichnete im ersten Quartal dieses Jahres 60 Prozent mehr Stunden, in denen der Strompreis unter null lag, als 2019. Diese Perioden sind ideal für den Einsatz großer Batteriespeicher, die selbst bei positiven Strompreisen längst konkurrenzfähig sind: »Batteriespeicher sind bei Neuanlagen die billigste Technologie für Nachfragespitzen (von bis zu zwei Stunden) in Regionen wie Europa, China oder Japan, die auf Gasimporte angewiesen sind«, erklärt Liebreich. Anders formuliert: Selbst für kurze Perioden mit sehr hohem Strombedarf brauchen wir keine fossilen Kraftwerke mehr, sondern können diese Spitzen mit Batterien abdecken, die zuvor mit Ökostrom aufgeladen worden sind.
Was genau auf der »Postkarte aus der Zukunft« stehen wird, ist trotzdem noch nicht entschieden. Dies hängt auch davon ab, wie die Gelder aus den Konjunkturprogrammen eingesetzt werden. Fließen diese in Energieeffizienz, Elektrifizierung und Sektorkopplung, wird von blauem Himmel und sauberer Luft die Rede sein, andernfalls von der alten, grauen Normalität. Patrick Graichen, Direktor des deutschen Thinktanks Agora Energiewende, sagt daher: »Wir dürfen nicht mit dem Geld von morgen die Technologien von gestern finanzieren.«
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!