- Politik
- Polizei
Streit um Stuttgarter Familienrecherche
Polizeipräsident will den umstrittenen Begriff »Stammbaumforschung« nicht verwendet haben
Ist die Bestimmung der Nationalität und eines möglichen Migrationshintergrundes von Tatverdächtigen für die polizeilichen Ermittlungen notwendig? Die Ankündigung des Stuttgarter Polizeipräsidenten Franz Lutz, die Herkunft mehrerer mutmaßlich Beteiligter an den Krawallen am 21. Juni in der Stuttgarter Innenstadt näher zu untersuchen, hat darüber eine bundesweite Debatte ausgelöst.
Um der Kritik etwas entgegenzusetzen, stellte die Polizei am Sonntagabend in einer Mitteilung klar, dass Lutz im Zusammenhang mit den Ermittlungen nie von »Stammbaumforschung« gesprochen habe. Der umstrittene Begriff sei laut »Stuttgarter Zeitung« vergangenen Donnerstag in einer Sitzung des Gemeinderates gefallen. »In der 16-minütigen Ausführung des Polizeipräsidenten Franz Lutz ist zu keinem Zeitpunkt die Rede von einer Stammbaumforschung. Er spricht von bundesweiten Recherchen bei Standesämtern«, hieß es in der Mitteilung. Ein Vertreter der Stadt Stuttgart hatte sich laut Polizei den Tonmittschnitt der Sitzung angehört.
An der Kritik ändere sich durch diese Feststellung nichts, erklärte dagegen Marcel Roth, Stadtrat der Grünen in Stuttgart. »Wie man das nennt, ist unwesentlich. Die Polizeipraxis ist entscheidend. Und diese bleibt höchst problematisch.« Auch der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein bewertet das Vorgehen der Beamten kritisch. Die Ermittlung der Familienherkunft stelle einen »schwerwiegenden Eingriff in Persönlichkeitsrechte dar. Die Diskussion ist Folge einer rassistisch motivierten Diskursverschiebung, die mit der ausufernden Nennung der Staatsangehörigkeit begann.«
Die Stuttgarter Polizei sieht sich dagegen im Recht. Eine »umfassende Feststellung der Lebens- und Familienverhältnisse« der Tatverdächtigen sei notwendig, weshalb »in einzelnen Fällen die Nationalität der Eltern« erhoben werde, auch weil es sich beim »überwiegenden Anteil der identifizierten Personen um Jugendliche« handelt.
Kritische Beamte sehen dies anders. »Ein Kernsatz der Kriminologie lautet: ›Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Ethnie, Herkunft oder Nationalität und Kriminalität.‹ Was die Polizei in Stuttgart erforschen will, ist gelebter Rassismus und ist angesichts der Deutschen Vergangenheit verwerflich«, so der Kriminologe Thomas Müller von der Berufsvereinigung PolizeiGrün. Widerspruch kommt auch vom Kriminalpsychologen Thomas Bliesener. Den Migrationshintergrund der Eltern bei den Standesämtern abfragen, bringe nichts, so der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen gegenüber dem Evangelischen Pressedienst. Für eine polizeiliche Präventionsarbeit müsse im jeweiligen Einzelfall vielmehr auf die Motive von Straftätern und nicht auf die Herkunft geachtet werden.
Auch die Rechtsanwältin Alexandra Braun widerspricht auf Twitter der Darstellung der Polizei: »Bei Jugendlichen ist die Ermittlung der Lebensumstände schlicht Aufgabe der Jugendgerichtshilfe.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.