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Wut in der DNA des Landes
Struktureller Rassismus, Opiumkrise und Donald Trump: »This Is America« von Daniel C. Schmidt
Sie sind Anfang 2016 in die USA gezogen, haben Entwicklungen seitdem also vor Ort mitbekommen. Wie kam es zu Ihrer Entscheidung, Auslandskorrespondent für die Vereinigten Staaten zu werden?
Ursprünglich wollte ich ein Jahr lang die Präsidentschaftswahl begleiten, habe dann aber ein Visum für fünf Jahre erhalten, das Maximale, was man als Journalist bekommen kann. Ich glaube, wenn Hillary Clinton gewonnen hätte, wäre ich inzwischen wieder in Deutschland, weil es keine so hohe Nachfrage an Geschichten gegeben hätte. Bei Donald Trump wacht man jeden Tag auf und weiß nicht: Was ist heute passiert? Meine Basis habe ich in D. C., was von Vorteil ist, weil ich so, wenn ich über Politik schreibe, ins Weiße Haus gehen, den Kongress besuchen kann. Ich bin aber auch unterwegs, um Leute zu treffen und die Stimmung im ganzen Land einzufangen. Deswegen habe ich das Buch geschrieben: Die Idee war, Trump nicht zur Hauptperson zu machen, sondern die Menschen und die Frage, wie sie diese Präsidentschaft bewältigen.Das Buch komprimiert die vielen dringlichen Themen auch jenseits des Coronavirus - sei es Trump, die Opiumkrise, die US-amerikanisch-mexikanische Grenze oder sogenannte school shootings. In dem Kapitel über MeToo und Brett Kavanaugh heißt es sinngemäß, »angry white men« seien konstituierend gewesen für die USA. Was bedeutet das?
Seit viereinhalb Jahren lebt Daniel C. Schmidt in Washington, D. C., von wo aus er vom politischen und gesellschaftlichen Beben in den USA berichtet. Nun ist sein Essayband »This Is America. Reisen durch ein Land im Umbruch« (Aufbau) erschienen, in dem er seine Wahlheimat aus der Perspektive eines teilnehmenden Beobachters erklärt. Über Rassismus, die kommende Wahl und den Himmel über Wyoming sprach mit ihm Isabella Caldart.
Das sagt Rebecca Traister in ihrem Buch »Good and Mad«. Sie schreibt, der Gründungsmythos der Vereinigten Staaten beruhe darauf, dass die Generation der Gründerväter sich gegen die britische Herrschaft aufgelehnt hat. Aus dieser Wut heraus ist die Unabhängigkeitserklärung entstanden - diese Wut stecke in der DNA des Landes und wird jedes Jahr zum Independence Day gefeiert.
Teilen Sie Traisters Meinung?
Ich stimme damit überein, dass mit zweierlei Maß gemessen und bei Frauen viel mehr darauf geachtet wird, wie sie sich emotional verhalten. Hillary Clinton ist dafür das beste Beispiel. Ich war an dem Abend, an dem sie sich ihre Nominierung als Kandidatin der Demokraten gesichert hat, auf ihrer Feier in Brooklyn. In der Halle herrschte eine gute Stimmung, Bill Clinton hat gesprochen, eine Band spielte … Aber Clinton selbst war wie an ihr Redemanuskript gefesselt. Man hätte sich gewünscht, dass sie die Rede zuklappt und sich darüber freut, die erste Kandidatin zu sein. Aber gerade in den USA wird Überemotionalität bei Frauen negativ ausgelegt und gedreht. Über Alexandria Ocasio-Cortez, die leidenschaftlich auftritt, heißt es, sie sei eine »verrückte« Sozialistin. Es ist ein schwieriges und großes Thema und ich habe keine Ahnung, ob ich dem als Mann gerecht werde. Ich wollte das unbedingt aufnehmen, bin mir aber meiner eigenen Grenzen in dem, wie ich auf gewisse Dinge blicke, bewusst.
Sie zitieren an einer Stelle den Journalisten James Fallows, der sagt, Deutschland müsse sich an seiner faschistischen, die USA an ihrer rassistischen Vergangenheit messen. Was genau meinen Sie damit?
Ob Hanau oder AfD, man kommt in Deutschland nicht drum herum, diese Themen am Faschismus zu messen. In den USA ist es der Rassismus, der nicht aus dem Gedächtnis des Landes zu löschen ist. Sehr viel, was stattfindet, lässt sich schlussendlich auf die Sklaverei zurückführen: die Klassengesellschaft, dass du es als Weißer sehr viel leichter hast, auch das Märchen des amerikanischen Traums. Es gibt den Turbokapitalismus, weil Sklaven ausgebeutet wurden, die das Land reich gemacht haben. Ganze Städte wurden über Jahrzehnte durch Rassentrennung ghettoisiert: In den USA werden öffentliche Schulen teilweise durch Steuergelder finanziert, das heißt, dass reiche Stadtteile, in denen die Eltern gut verdienen und entsprechend Steuern zahlen, besser ausgestattete Schulen haben. In der gleichen Stadt sind die Schulen in ärmeren Districs auch schlechter, wodurch die Leute nicht so gut ausgebildet werden. Das schafft ein System, das sich selbst nährt.
Der amerikanische Traum spielt in dem Buch eine wichtige Rolle, verkörpert etwa durch Michelle Obama oder in den Hoffnungen vieler Bürger*innen.
Manche sagen das wortwörtlich, andere im übertragenden Sinne, ohne den Begriff zu benutzen. Ich habe in Los Angeles eine Frau getroffen, die als Komparsin arbeitet und versucht, Schauspielerin zu werden. Mit Anfang 40 hatte sie zwei Straight-to-DVD-Einträge in der Onlinedatenbank IMDB. Ich fragte sie, wie lange sie das durchhalten würde, und sie meinte, sie habe die Woche zuvor in einer Schlange hinter dem Regisseur Quentin Tarantino gestanden - und wenn er gesagt hätte, für seinen nächsten Film suche er eine Sekretärin und sie habe genau das richtige Gesicht für die Rolle … So etwas könne immer passieren. Das ist vielleicht eine Hollywood-Mentalität, aber viele Leute glauben, dass sie nur ein einziges Mal Glück brauchen und es dann schaffen. Sie werden aber von der Realität eingeholt. Es reicht nämlich nicht, sich lange in etwas reinzuknien: In vielen Situationen gibt es strukturelle Nachteile für gewisse Leute, vor allem für Schwarze, Latinos und Asian Americans.
Die Opiumkrise wird hierzulande verhältnismäßig wenig wahrgenommen. »Bei meinem Besuch hier wirkt Amerika kleiner und schutzloser als auf jeder meiner anderen Reisen durch das Land«, heißt es in dem entsprechenden Kapitel. Betrifft das Thema bestimmte Regionen oder doch das gesamte Land?
Das macht vor keinem Bundesstaat halt. In West Virginia ist die Situation, gemessen an der Bevölkerungsdichte, sehr schlimm. Die USA haben insgesamt eine laxe Verschreibungspolitik. Wenn man in Deutschland die Weisheitszähne rausgenommen bekommt, gibt es Ibuprofen, in den Vereinigten Staaten Medikamente auf Opiumbasis. Teilweise ist das systematisch: Gerade in West Virginia, wo viele im Kohlebau hart arbeiten, die Leute also an bestimmten chronischen Erkrankungen und Rückenschmerzen leiden, haben Pharmaunternehmen die Region gezielt mit Mitteln auf Opiumbasis geflutet. Das fing in den Neunzigern an und hat sich über die Jahrtausendwende gerettet. Wenn die Medikamente irgendwann zu teuer oder nicht mehr verschrieben werden, landet man schnell bei Heroin. Oder bei Fentanyl, das ist synthetisch und elfmal stärker als Heroin. Deswegen gibt es so viele Menschen, die an einer Überdosis sterben: Viele wissen das nicht und spritzen sich die »normale« Menge.
Warum wird das Problem in Deutschland so wenig wahrgenommen?
Das wundert mich auch, aber ich glaube, das Ausmaß ist zu abstrakt, um es zu begreifen. Die Pharmaindustrie hat in den USA viel Macht, in Deutschland ist sie etwas strikter reguliert. In den Staaten kann fast jeder eine Geschichte dazu erzählen, kennt Leute, die etwa in Reha sind. Die Zahlen sind schier absurd. Unabhängig von der Coronakrise ist die Lebenserwartung in den USA in den vergangenen drei Jahren zurückgegangen. In einer Industrienation! Das ist doch irre.
Sie haben 39 der 50 Staaten bereist. Ist Ihnen ein Staat besonders in Erinnerung geblieben?
Der Himmel in Wyoming ist das, was mich am nachhaltigsten beeindruckt hat. Es gibt schier endlose Weiten, die sehr dünn besiedelt sind; die Landschaft wird nur durch eine Bundesstraße durchbrochen. Dadurch gibt es weite Horizonte, Steppen, eine Seenlandschaft und Asphalt. Die Weite spiegelt sich auch in den Farben am Himmel wider, zwischen Türkis, Violett und Pink, wie ein Regenbogen, ohne ein Regenbogen zu sein. Das sieht wahnsinnig schön aus.Im Prolog schildern Sie die Angst, »das Land nie ganz zu verstehen, weil es doch so riesig und von Region zu Region verschieden« ist. Haben Sie jetzt, nach Verfassen des Buches, das Gefühl, die USA zu verstehen?
Je länger ich hier bin, umso mehr habe das das Gefühl, dass ich es kapiere - aber dann ist es wieder umso komplizierter, weil man bestimmte historische Ereignisse oder Namen nicht kennt. Es gibt Bundesstaaten, in denen ich nur Stunden war. Stellt man sich das als geografische Einheit vor, sind die USA wie Europa und Kalifornien und Maine gleichen sich so wie Portugal und Rumänien.
Im vorletzten Kapitel analysieren Sie Joe Biden mit eher durchwachsenem Urteil. Stellt er eine Chance für die Demokraten dar?
Es ist rein spekulativ, aber ich glaube, mit der Coronakrise ist das Blatt neu gemischt worden. Vorher ging man davon aus, dass die Wirtschaft gut läuft und der Wahlkampf auf großen Bühnen vor Leuten stattfinden würde. Als Kandidat bist du eigentlich gerade im Sommer unterwegs, schüttelst Hände, bist auf Feiern, küsst Babys … Dieses Vor-Ort-Sein wird »Retail Politics« genannt. Unter den registrierten Wählern haben sich mehr für Biden als für Bernie Sanders entschieden. Es ist nur gerade die junge Wählerschicht, die sich etwas anderes erhoffen würde. Biden steht für die guten alten Zeiten, aber das ist nicht das, was sie haben wollen. Er muss Forderungen von Sanders-Wählern übernehmen, damit sie, auch wenn sie ihn nicht mögen, sagen: Damit kann ich leben, das ist mir lieber als Trump.
Möchten Sie eine Prognose zur kommenden Präsidentschaftswahl abgeben?
Die Vorstellung, dass wir überhaupt darüber reden, dass Donald Trump wiedergewählt wird, bei allem, was er in den vergangenen Jahren gesagt und getan hat, ist ja das eigentlich Überraschende. Man trifft unterwegs viele Leute, die sagen: Ich mag den Typen an sich nicht, aber am Ende habe ich einen Job, mir geht’s gut … Das ist das Argument, das bis vor ein paar Monaten gezogen hat. Jetzt fällt die Trumpf-Karte, die er hätte ausspielen können, weg.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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