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Gerechtigkeit ist keine Story
Karsten Krampitz über fehlende und falsche Aufmerksamkeit für Armut und Obdachlosigkeit im Sommer
Wenn Berliner Journalisten über Armut berichten wollen, auch im Sommer, mit Bildern von traurigen Kindern und allem Pipapo, dann rufen nicht wenige von ihnen bei Bernd Siggelkow an, dem Gründer und Chef der »Arche«, dem »christlichen Kinder- und Jugendwerk«. Siggelkow, der sich als Pastor anreden lässt, ohne wirklich Theologie studiert zu haben und von der Amtskirche ordiniert zu sein. Der weiß dann auch Hilfe und vermittelt die Reporter an gesprächsbereite sozialschwache Familien. Bei nächster Gelegenheit werden sich die Kollegen revanchieren, mit einem Bericht über die »Arche«. Dank solcher Kooperation ist das freikirchliche Hilfsprojekt aus den Medien nicht mehr wegzudenken - und damit auch das Bild von Marzahn-Hellersdorf als Berliner Bronx, wo schon Kinder an Drogen, Pornos und Waffen geraten und alleinerziehende Mütter ihre Zeit mit Ämtergängen, Alkohol und wechselnden Geschlechtspartnern verbringen.
Nun ist Armut - gerade Kinderarmut - eine bittere Tatsache. Andererseits würde Pastor Siggelkow niemals sagen: »Na prima, wir sind auf dem Weg: R2G hat das kostenlose Schulessen eingeführt, feine Sache, noch dazu den Mietenstopp!« Gruselgeschichten gehören zur Geschäftsgrundlage solcher Freikirchenprojekte; daraus leiten sie ihre Legitimation ab. Das sichert Spenden und Aufmerksamkeit. Einer seriösen Armutsdebatte aber erweisen solche religiös verbrämten Mitleidskampagnen einen Bärendienst. Bei den Journalisten ist das Thema für Monate »durch«. Es wurde berichtet, ohne dass man darüber gesprochen hat.
Die schlichte Frage nach Gerechtigkeit reicht für keine »Story«. Oder anders gefragt: Warum sind in der Demokratie die Menschen nur nominell gleich, nicht sozial? Ist Armut bis hin zur Obdachlosigkeit ein konstitutives Element der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, etwas, dass es immer geben wird, sozusagen als Nebenwirkung der Freiheit?
Ein großes Verdienst der linken Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach ist es, die Themen Armut und Obdachlosigkeit in ihrer ganzen Breite und Differenziertheit wieder stärker ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt zu haben. Sei es mit verschiedenen Konferenzen, Modellprojekten wie »Housing First« oder - in Zeiten von Corona - dem »Rettungsschirm für Obdachlose«: der Bereitstellung von Unterkünften, in denen sich Obdachlose anonym 24 Stunden am Tag, und das sieben Tage die Woche, aufhalten können, wo sie verpflegt werden und, so sie es möchten, Sozialberatung erfahren. Darüber hinaus sind bis zu 30 »Obdachlosenlotzen« auf der Straße unterwegs - ehemalige Unbehauste, die andere Obdachlose aufsuchen, sie mit Nahrungsmitteln, Hygieneartikeln, Mundschutz, Informationen und Trinkwasser versorgen und versuchen, sie wieder an das Hilfssystem heranzubringen. Finanziert werden diese Stellen über das Berliner Programm zum Solidarischen Grundeinkommen. Das besondere Augenmerk der Sozialsenatorin gilt aber der Situation obdachloser Frauen, die häufig Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind und überhaupt ihr Leben auf der Straße gänzlich anders organisieren müssen als die Männer.
An Obdachlosigkeit sterben Menschen nicht nur im Winter, wenn sie vor der Kälte Zuflucht finden können in Notübernachtungen und Nachtcafés und ein Kältebus versucht, das Allerschlimmste zu verhindern. Die Begleiterscheinungen der Obdachlosigkeit wie psychische Erkrankungen, Alkohol- und Drogensucht oder auch Angst vor Diebstahl und Gewalt tragen viele Betroffene das ganze Jahr durch. Zum Wesen linker Politik gehört es, dafür zu sorgen, dass diese Menschen, egal aus welchem Land sie stammen, ein besseres Leben führen können. In diesem Sommer will Elke Breitenbach, analog zur Kältehilfe, eine Art »organisierte Hitzehilfe« auf die Beine stellen. Gemeinsam mit dem Träger, dem Sozialdienst katholischer Frauen, ruft die Senatorin die Berliner zur Solidarität auf: »Sprechen Sie Obdachlose an! Rufen Sie im Zweifel einen Notarzt! Schenken Sie eine Wasserflasche. Verschenken Sie Sonnencreme!« Und ein anderer sagt: »Wenn du Almosen gibst, sollst du es nicht vor die ausposaunen …, lass die linke Hand nicht wissen, was die rechte tut.«
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