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Ausbeutung 24/7
Eine bulgarische Pflegekraft klagt vor Gericht ihren Lohn ein
Es ist ein Fall, wie es ihn in Deutschland zu Hunderten gibt: Eine Pflegekraft aus Bulgarien unterschreibt einen Arbeitsvertrag für 30 Wochenarbeitsstunden in einem hiesigen Haushalt, die Wochenenden sind frei. Zwischen 2015 und 2016 wohnt sie bei einer 96-jährigen betreuungsbedürftigen Deutschen und ist jeden Tag im Einsatz. Dass sie zwei Jahre lang 24/7 und damit letztlich 168 Stunden in der Woche gearbeitet hat oder in Bereitschaft war und nur für 30 Wochenstunden bezahlt wurde, will Frau D., die mittlerweile in Bulgarien im Ruhestand ist, nicht auf sich beruhen lassen: Sie fordert vor Gericht in zwei Verfahren insgesamt 90 000 Euro Lohnkosten für 2015 und 2016 nach. Denn die Überstunden gehören bezahlt. Basta.
Das Berliner Arbeitsgericht sah das ähnlich und sprach ihr im August 2019 über 40 000 Euro für das Jahr 2015 zu. Der Arbeitgeber ging in Berufung. Er habe die Überstunden nicht angeordnet, und die Beschäftigte habe diese nicht dokumentiert, argumentierte er. Außerdem hätte man keinen Bereitschaftsdienst vereinbart. Nun wurde der Fall in der zweiten Instanz vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg verhandelt. »Eigentlich müsste die Arbeitgeberin Anweisungen geben und die Überstunden anordnen«, sagt Justyna Oblacewicz vom DGB-Projekt Faire Mobilität, das ausländische Beschäftigte berät und ihnen Rechtsbeistand vermittelt. Aber das sei in dem Fall nicht geschehen. Wie auch? Die Firma sitzt in Bulgarien, der direkte Kontakt bestand aber vor Ort zur Familie der 96-Jährigen.
Die Vorsitzende Richterin spricht bei der Verhandlung am vergangenen Donnerstag von »jeder Menge Widersprüche«. Der Offensichtlichste: Wie soll eine 96-Jährige mit 24-Stunden-Pflege-Bedarf von einer einzelnen Person betreut werden, die laut Arbeitsvertrag nur 30 Stunden an fünf Tagen in der Woche arbeitet? Im Prinzip also ein klarer Fall. Der Vorschlag zur gütlichen Einigung, den die Richterin unterbreitete, überraschte dann aber doch: Die Arbeitgeberin soll ihrer Beschäftigten binnen eines Monats 10 000 der mehr als 40 000 Euro zahlen.
Dahinter steckt: Vor den Arbeitsgerichten wird meist versucht, zu einer gütlichen Einigung zu kommen, bei der beide Seiten Zugeständnisse machen. Der Arbeitgeber gesteht zu, dass Lohnforderungen berechtigt sind, dafür verzichtet die Beschäftigte auf einen Teil des Geldes. So soll gewährleistet werden, dass die Beschäftigten zu ihrem Recht kommen und vermieden werden, dass Unternehmen durch die Nachzahlungen vor der Insolvenz stehen.
Der Vorschlag, 10 000 statt 40 000 Euro, sorgte bei vielen Anwesenden für Kopfschütteln. Während der Beklagtenanwalt nicht verbindlich sagen konnte, ob der Arbeitgeber die Einigung annimmt, nahm der Anwalt von Frau D. den Vergleich widerruflich an. Wenn die Klägerin nicht zustimmt, kann er innerhalb von drei Wochen widerrufen werden.
»Der schönste gerichtliche Titel nützt nichts, wenn nicht gezahlt wird«, sagt der Anwalt zu »nd«. Man wisse nichts über die finanzielle Situation des bulgarischen Unternehmens, und wenn dieses Insolvenz anmeldet, gebe es gar nichts. Oft stünden Nachzahlungen von etlichen 10 000 Euro auf dem Papier, ohne dass auch nur ein Cent gezahlt wird. Also lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.
Justyna Oblacewicz hofft, dass der Vergleich ein Zeichen setzt: »Wenn man klagt, bekommt man auch etwas heraus. Wir erhoffen uns, dass mehr Beschäftigte sich nun dazu entschließen, vor Gericht zu gehen, um ihren aussehenden Lohn einzufordern.« Insgesamt wenden sich pro Jahr etwa 400 Kolleg*innen aus der Pflegebranche an die »Faire Mobilität«. Doch kaum jemand ist dazu bereit, vor Gericht zu zu ziehen.
Die zögerlichen Haltung der Arbeitgeberseite lässt darauf schließen, dass man sich dort dessen bewusst ist: Sollte Frau D. eine Lohnnachzahlung zugesprochen werden, befürchtet man weitere Klagen von ausländischen Pflegearbeiter*innen. Denn diese Form der Ausbeutung ist in der Branche gängige Praxis. Das System basiert darauf.
Ergebnis des Tages: Das LAG wird in der kommenden Woche den ausformulierten Vorschlag für die gütliche Einigung den Beteiligten zukommen lassen. Sollte eine der beiden Seiten dem widersprechen und in Revision gehen, könnte der Fall vor dem Bundesarbeitsgericht in Erfurt landen, das dann grundsätzlich entscheidet.
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