Vielfacher Agent starb allein
Spur im Mordfall des in Wien getöteten Tschetschenen Mamichan U. führt nach Kiew
Dass seine Tage gezählt waren, wusste Mamichan U. allem Anschein nach: Eine schusssichere Weste hatte sich der in Wien lebende Tschetschene kurz vor seiner Ermordung am 4. Juli besorgen wollen. Und dass auf ihn ein Kopfgeld ausgesetzt war mit konkreter Summe, hatte sich wohl auch bis zu ihm durchgesprochen. Denn das hatte seit Monaten in der tschetschenischen Community in Wien die Runde gemacht.
Seit Jahresbeginn hatte sich Mamichan U. über Youtube exponiert. In seinem Videoblog beschimpfte er Tschetscheniens Machthaber Ramsan Kadyrow und dessen Familie, kritisierte Kadyrows Regierungsstil. Massive Morddrohungen waren die Folge. Wie aber aus dem Umfeld von Mamichan U. zu hören ist, war genau das die Absicht dieser Provokationen: Penibel habe er Telefonnummern, E-Mail-Adressen, Kontakte der Droher gesammelt und weitergeleitet - zugleich aber das Angebot auf Personenschutz seitens des österreichischen Bundeskriminalamtes abgelehnt. Das öffentliche politische Engagement Mamichan U.s kam praktisch aus dem Nichts. Vor Februar 2020 war er in keiner Weise politisch in Erscheinung getreten.
Und schließlich gab es dieses Telefonat zwischen Mamichan U. und Elena Denisenko wenige Tage vor dem Mord. Die beiden kannten einander seit Jahren. Denisenko war dem Tschetschenen 2014 anscheinend vom ukrainischen Geheimdienst SBU als Vertrauensperson vorgestellt worden. Die Frau leitet einen in Kiew ansässigen ukrainisch-tschetschenischen Freundschaftsverein - eine ziemliche verdächtige Institution.
Die das Telefonat einleitenden Freundlichkeiten können über den ernsten Inhalt des Gesprächs nicht hinwegtäuschen. Dass Blut fließen wird, ist allen Beteiligten zu diesem Zeitpunkt klar. Die Frage ist einzig: Nur Mamichans Blut oder das seiner gesamten Familie? Denisenko fordert, Mamichans Frau solle sich in einer Video- oder Audiobotschaft von den Aktionen ihres Mannes distanzieren, um sich selbst zu retten. Mamichan U. wirft der Ukrainerin vor, für den russischen Inlandsgeheimdienst FSB zu arbeiten und ihn verraten zu haben. Inzwischen hat auch der SBU Denisenko öffentlich als bezahlte Informantin des FSB bezeichnet.
Was sich seit dem Mord nun entspinnt, ist ein ukrainisches Intrigenspiel rund um die Tat. Mamichan U. hatte seit 2014 eng mit staatlichen Ermittlungsbehörden und dem Geheimdienst SBU kooperiert. Von Kadyrow-Leuten war er wiederum mit dem Mord an drei Personen in der Ukraine beauftragt worden, was sich durch Tonbandaufnahmen belegen lässt. Gegenüber Kadyrows Anhängern hatte sich Mamichan über Jahre als Killer ausgegeben, alle Infos aber an Kontaktpersonen in der Ukraine weitergegeben. Doch Ende Dezember 2019 kappte Kiew aus nicht bekannten Gründen den Kontakt. Ein Visum war ihm noch erteilt worden, beim Versuch der Einreise über Ungarn aber wurde er abgewiesen.
Wie sich aus einem Anfang Juni veröffentlichten Interview mit dem ukrainischen Youtube-Kanal Swobodny und dem Telefonat mit Denisenko ergibt, fühlte sich Mamichan U. von der ukrainischen Seite betrogen. Seine Infos seien entweder bewusst oder aus Schlamperei nicht an relevante Stellen weitergeleitet worden, so sein Vorwurf.
In der zweiten Jahreshälfte 2017 gab es tatsächlich Anschläge auf die drei Personen, für deren Ermordung Mamichan U. allerdings bereits 2014 angeheuert worden sein soll. Darunter der nationalistische ukrainische Publizist und Ex-Abgeordnete Ihor Mosiychuk. Zu ihm hatte Mamichan U. anscheinend bis zu seinem Tod Kontakt.
Mosiychuk war es auch, den Mamichan U. kontaktierte, als er sich eine schusssichere Weste besorgen wollte. Und der Publizist fädelte auch das Interview mit Swobodny ein, nachdem Mamichan nach dem Bruch mit dem SBU beschlossen hatte, an die Öffentlichkeit zu gehen. Produziert wurde das Interview im Februar 2020. Darin machte sich Mamichan U. ausschließlich Feinde und kappte alle Rettungsleinen: Die Ukrainer hätten ihn betrogen, seine Identität verkauft oder ihn einfach fallengelassen; die Kadyrow-Leute zerlegt der Agent für alle Seiten bis ins Detail, auch durch Audiomitschnitte von Telefonaten mit hochrangigen tschetschenischen Vertretern, in denen die Morde praktisch offen diskutiert werden. Den österreichischen Behörden wirft er Inkompetenz vor. Mit allen aber hatte er in den Jahren zuvor zusammengearbeitet.
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