- Wirtschaft und Umwelt
- Alternative Ökonomie
»Menschen merken, was ihre Bedürfnisse sind«
Dagmar Embshoff und Friederike Habermann zu den Chancen alternativer Ökonomie in der Coronakrise
Corona hat massive Auswirkungen auf die Wirtschaft. Wie kommen Kollektivbetriebe durch die Krise?
Embshoff: Das ist natürlich unterschiedlich. In der Solidarischen Landwirtschaft gibt es die Erfahrung, dass Corona keinen Unterschied macht. Hier wird ja die Arbeit vorfinanziert, alle Kosten werden gemeinsam getragen, wobei die Verbraucher*innen je nach ihren Möglichkeiten beitragen. Sicher, es dürfen nur ein bis zwei Leute in den Abholraum, aber da ist sonst auch kein Gedränge. Bei einem Kollektivcafé hier in Kassel war die Situation anders. Sie hatten zunächst geschlossen. Um Kosten aufzufangen, haben sie eine Crowd-funding-Kampagne gestartet und hatten nach einer Woche mehr als die Summe zusammen, die sie brauchten - obwohl ihr Umfeld sicher nicht wohlhabend ist. Zusätzlich haben sie auf Kuchenlieferservice umgestellt. Die Nachfrage war hoch. Auch dieser Betrieb kam gut durch den Lockdown.
Habermann: Der Ansatz, den ich verfolge, ist die Tauschlogikfreiheit, in der basisdemokratisch und bedürfnisorientiert jenseits von Markt und Staat agiert wird. Wir versuchen, unsere Lebenszeit zu befreien, um tun zu können, was uns wirklich wichtig ist. Das hat sich durch Corona nicht geändert. Andererseits, auch wenn wir wenig Geld brauchen, dieses aber beispielsweise in Bildungsbereichen verdienen, hat Corona natürlich Auswirkungen. Gleichzeitig haben Menschen, die weiterhin ihr Gehalt beziehen, dieses solidarisch umverteilt. Diese Erfahrung haben auch viele Plattformen gemacht, etwa zur Unterstützung von Künstler*innen oder in Nachbarschaften. Das hat sicher nicht immer ausgereicht, aber die Logik »Du bekommst nur Geld, wenn du dafür arbeitest«, durchkreuzt.Es scheint, dass Solidarische Ökonomien krisenfester sind. Warum ist das so?
Habermann: Ich denke, das liegt an der Bedürfnisorientierung. Die Ressourcen sind ja in der kapitalistischen Wirtschaft auch da. Aber hier muss immer der sogenannte Multiplikatoreffekt aufrechterhalten werden, ansonsten führt er in die Krise: Geht der Konsum runter, gehen Produktion, Beschäftigung und das Einkommen und dann wieder der Konsum runter in einer Abwärtsspirale. Dann müssen Betriebe schließen, die später wieder gebraucht werden, Menschen haben kein Einkommen mehr und so weiter. Letztlich gerät das ganze System in die Krise, verbunden mit viel Elend. Obwohl alles da wäre.
Embshoff: Ich würde noch den Punkt der Beziehungen ergänzen. In der Solidarischen Ökonomie gehen Menschen mehr Beziehungen ein, sie kennen die Betriebe und Projekte und fühlen sich gemeinsam verantwortlich. Da kommt man schneller auf die Idee, Ressourcen dorthin zu geben, wo sie gebraucht werden, anstatt bei Amazon zu kaufen.Habermann: Persönliche Bezüge gibt es allerdings nur dort, wo wir relativ kleine Strukturen haben. Grundsätzlich funktionieren diese Prinzipien auch in großen Strukturen. Entscheidend ist, dass Bedürfnisse angemeldet werden können, ohne dass ich wissen muss, wie nett die Person ist, um dafür zu sein, dass sie ein Dach über dem Kopf und Zugang zur Gesundheitsversorgung hat.
Nicht nur bedürfnisorientiertes Wirtschaften, auch regional verankerte Betriebe scheinen besser mit der Krise klarzukommen. Ist Regionalität eine Antwort?
Habermann: Jein. Im Neoliberalismus ist globales Wirtschaften zwar auf die Spitze getrieben worden, indem etwa indischen Reisbäuer*innen gesagt wurde, sie sollen lieber Baumwolle anbauen, weil der Reis in Indonesien billiger produziert werden kann. Damit wurden absolute Abhängigkeiten vom Weltmarkt geschaffen, mit katastrophalen Folgen. Gleichzeitig darf der Trend zur Regionalisierung nicht dazu führen, dass die reichen Länder sich abschotten, deren Wohlstand auf 500 Jahren Ausbeutung beruht. Konkret in der Solidarischen Landwirtschaft heißt das, sie ist regional ausgerichtet, aber einzelne Produkte können auch dorthin exportiert werden, wo sie gebraucht werden. Es gibt zarte internationale Ansätze einer Community Supported Economy. Beispiel Kaffeeanbau: Bei der Initiative Teikei etwa wird geguckt: Was sind die Bedürfnisse der produzierenden Kooperativen? Das geht über den Ansatz des Fairen Handels hinaus, der sich nach den Marktpreisen richtet und dann ein paar Cent drauflegt.
Embshoff: Für mich ist klar, dass wir eine stärkere Regionalisierung brauchen, denn das ist auch ökologisch sinnvoll. Trotzdem können regionale Strukturen internationale Bezüge haben, je nachdem was ökologisch und ökonomisch sinnvoll ist. Die Frage ist ja: Wo gibt es welchen Bedarf? Statt etwa Millionen Tonnen Milch zwischen der EU und Australien hin und her zu exportieren, was absurd ist, macht es mehr Sinn, je nach Bedarf regional zu produzieren.Andererseits springen auch immer wieder Nationalist*innen auf den Regionalzug auf. Wie sollte mit diesen Tendenzen umgegangen werden?
Embshoff: Regionale Strukturen müssen überhaupt nicht nationalistisch sein, von diesen Tendenzen muss man sich klar und aktiv abgrenzen.
Habermann: Eigentlich muss die Idee der nationalen Wettbewerbsstaaten überwunden werden, denn darauf beruht die imperiale Lebensweise, von der wir hier bei allen sozialen Unterschieden profitieren. Sie sollte aber nicht durch konkurrierende Regionen ersetzt werden. Ich denke, dass wir Wirtschaft auf unterschiedlichen Skalen organisieren sollten: Die Bäckerei wird sehr lokal Menschen versorgen, die Energieversorgung schon sehr viel großflächiger gestaltet sein, und einiges macht global beziehungsweise transregional am meisten Sinn.Birgt die Coronakrise also Chancen auf einen Wandel?
Embshoff: Positiv ist, dass Menschen merken, was ihre Bedürfnisse sind. Plötzlich geht es um Ernährung und um Care, also Sorgearbeit wie Pflege, Kinderbetreuung und Gesundheit. Auch Wohnen rückt in den Fokus durch Coronaherde in verengten Wohnblocks. Gleichzeitig verarmen Menschen, verlieren ihre Arbeit und wir müssen gucken, wie wir diese Menschen solidarisch als Gesellschaft auffangen. Wie können wir gemeinsam eigene Strukturen schaffen? Viele Menschen fragen sich durch die Krise: Was mache ich, was will ich machen? Das ist eine Chance. Die Krise ermöglicht es, neu zu fragen, was nicht nur »systemrelevant«, sondern vor allem auch lebens- und überlebensrelevant ist. Dazu sehen wir in unserem Netzwerk drei Wege, die gemeinsam zum Ziel einer solidarischen, ökologischen und demokratischen Wirtschaftsweise führen: Commons ausweiten, Märkte am Gemeinwohl ausrichten und den Staat umfassend demokratisieren. Denn eines ist klar: Weder die unsichtbare Hand des Marktes noch die Technik oder Algorithmen werden es richten, sondern wir Menschen mit unserer Kreativität und Kooperationsfähigkeit. Nur gegenseitig können wir uns ermöglichen, uns in Freiheit in dieser Welt zu verwirklichen und gleichzeitig ein gutes Leben für alle zu schaffen.
Habermann: Die Coronakrise ist überwiegend auf dem Rücken von Pflegepersonal und im Sorgebereich ausgetragen worden. Aber dass der Hashtag systemrelevant heute für diese Menschen steht und nicht mehr für Banken, zeigt, dass sich im Alltag innerhalb weniger Wochen entscheidend das Bewusstsein verändert hat. Naomi Klein hat mit ihrem Buch Schockstrategie gezeigt, dass mit Krisen auch immer wieder strukturelle Veränderungen wie etwa Neoliberalismus durchgesetzt wurden. Mit Corona ist die Situation in jede Richtung offen. Das bisherige staatliche Rettungspaket dient als Wachstumsmotor dazu, dass sich das Rad des Kapitalismus eine Runde weiter drehen kann. Stattdessen könnte es auch als Basis für Veränderung dienen, indem Grundrechte wie Bildung, Wohnen, Gesundheit und Ernährung etabliert werden. So könnte soziale Infrastruktur aufgebaut werden, die wirklich im Leben aller spürbar ist.Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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