Russischer Historiker Dmitrijew verurteilt

Menschenrechtsorganisationen kritisieren Verfahren heftig

  • Ute Weinmann, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.

Pädophilie ist ein schwerwiegendes Vergehen, entsprechende Vorwürfe bedürfen daher einer genauen Untersuchung. Ein Gericht im karelischen Petrosawodsk befand nach jahrelangem Prozess Jurij Dmitrijew für schuldig und verurteilte ihn zu drei Jahren und sechs Monaten Haft. Die Anklage forderte fünfzehn Jahre. Menschenrechtsorganisationen halten das gesamte Verfahren für unzulässig. Das liegt nicht allein an einer mehr als fragwürdigen Beweisführung, sondern auch an der Person Jurij Dmitrijew. Der Historiker deckte im Wald von Sandarmoch, etwa 180 Kilometer von Petrosawodsk entfernt, die Grabstätte zunächst einiger hundert, später noch weiterer Opfer des stalinistischen Terrors auf. Nach offiziellen Angaben liegen dort die Gebeine von 7500 Menschen.

Dmitrijew wurde erstmals im Dezember 2016 festgenommen. Zehn Tage zuvor ging bei der Polizei eine anonyme Meldung ein, wonach er seine Ziehtochter im Alter zwischen drei und sechs Jahren nackt fotografiert habe. Obwohl nach geltendem Recht anonyme Hinweise nicht als Anlass für eine Strafverfolgung dienen dürfen, leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein. Nur neun Fotos von vielen Dutzenden fanden Eingang in die Akten. Darauf angesprochen, zu welchem Zweck er die Fotos angefertigt habe, sagte Dmitrijew aus, er habe den Gesundheitszustand des Mädchens dokumentieren wollen, das immer wieder über Schmerzen im Bauchbereich klagte, die er nicht zuordnen konnte. Einmal hätte sie ihm später gestanden, sie sei in der Badewanne ausgerutscht, ein anderes Mal taten ihr die Beine weh nach einem Ponyritt. Dmitrijew, der selbst in einem Kinderheim aufgewachsen ist, wollte sich absichern, damit das Jugendamt ihm das Kind nicht wegnehme. Ein Kinderarzt sagte vor Gericht aus, bei solchen Fotos handele es sich um eine gängige Praxis.

Im April 2018 verhängte das Gericht einen Freispruch, aber bereits zwei Monate später kassierte die nächsthöhere Instanz das Urteil ein und es kam zur Wiederaufnahme des Verfahrens. Nun kam auch der Gewaltvorwurf hinzu. Ausgangspunkt war die Anzeige der Großmutter des Mädchens, dessen Erzählungen je nach Situation so stark variieren, dass sich die Frage nach einem manipulativen Herangehen der Ermittler geradezu aufdrängt.

Eine Besonderheit der russischen Justiz besteht darin, dass der Gegenstand einer Gerichtsverhandlung nicht unbedingt deckungsgleich ist mit den Gründen für eine Strafverfolgung. Darauf, dass es sich bei Jurij Dmitrijew um einen solchen skandalösen Fall handelt, könnte der Umstand hinweisen, dass sich in den letzten Jahren eine heftige politische Debatte um die Massengräber in Karelien und ihre historische Zuschreibung entfacht hat. Einige Historiker behaupten inzwischen, bei den im Wald verscharrten menschlichen Überresten handelte es sich möglicherweise nicht um ehemalige Gefangene sowjetischer Lager, sondern um Soldaten der Roten Armee. Jurij Dmitrijew, der für die Aufarbeitung der Repressionen unter Stalin kämpft, könnte im November seine Arbeit wieder aufnehmen - falls die Untersuchungshaft angerechnet wird.

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