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Ein Wachturm in Stutthof
Ingrid Heinisch über eine Verurteilung und deren Anteil an der NS-Aufarbeitung
Ein alter Mann wird verurteilt, für etwas Schreckliches, was er getan. Halt, Einspruch, eigentlich hat er ja gar nichts getan. Er hat nur zugeschaut. So lautete seine Beweisführung. Oder hat er doch durch seine Mitwirkung die Ermordung tausender Häftlinge in Stutthof mit zu verantworten? Darauf fußte die Anklage, die Bruno D. der Mittäterschaft am Mord von mehr als fünftausend Häftlingen im damaligen Konzentrationslager Stutthof für schuldig hält. Er war siebzehn Jahre alt, als er dort im Sommer 1944 seinen Dienst als Wachmann antrat. So jung also, dass der heute Dreiundneunzigjährige nach Jugendstrafrecht zu verurteilen war.
Bis vor zehn Jahren wurden NS-Verbrechen an bundesdeutschen Gerichten nur verurteilt, wenn eine direkte Beteiligung an den Morden in den Konzentrationslagern nachgewiesen werden konnte. Das änderte sich mit dem Prozess gegen John Demjanjuk, einem ausgewiesenen Naziverbrecher, der 2011 für seine indirekte Teilnahme an den Morden von mehr als 28 000 Juden in dem deutschen Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen schuldig gesprochen wurde. Danach gab es noch mehrere andere Prozesse gegen ehemalige Wachleute deutscher Konzentrationslager. Doch keiner von ihnen war zum Zeitpunkt seiner Tat so jung wie der Angeklagte Bruno D.
Das Konzentrationslager Stutthof war in vieler Hinsicht ein besonderes. Auf polnischem Boden existierte kein deutsches Konzentrationslager über einen so langen Zeitraum, vom 2. September 1939 bis zum 9. Mai 1944, als es endlich durch sowjetische Truppen befreit wurde. Die ersten Häftlinge dort waren Danziger Intellektuelle und Politiker. Manche von ihnen wurden in Danzig schon vor dem deutschen Überfall auf Polen verhaftet. Nach und nach wuchs Stutthof zu einem der wichtigsten deutschen Konzentrationslager auf polnischem Boden. Es hatte 39 Außenlager, in denen die Häftlinge systematisch durch Ausbeutung ihrer Arbeitskraft ermordet wurden.
Nach dem Attentat auf Hitler wurden in Stutthof Familienangehörige der Hitlerattentäter in Sippenhaft gehalten. Gleichzeitig erreichten 1944 Judentransporte das Lager. So wurde Stutthof auch zum Vernichtungslager.Wie viele der Häftlinge dort umgekommen sind, ist unbekannt. Schätzungen gehen von bis zu 70 000 Menschen aus. Das ist mehr als die Hälfte aller Lagerinsassen von 1939 bis 1945.
Von all dem will der Angeklagte Bruno D. nichts mitbekommen haben. Das ist nicht glaubhaft. Stutthof war klein, nichts war zu übersehen, schon gar nicht von einem Wachturm aus. Der Verteidiger argumentiert, sein Mandant sei so jung gewesen, ängstlich, in der NS-Ideologie aufgewachsen, die es ihn gelehrt habe, sich nicht gegen ein Unrecht aufzulehnen, das alltäglich war.
Bruno D. hat ein Schlusswort gewagt, obwohl er dazu nicht verpflichtet war. Wie sehr es ihm leid tue, hat er gesagt, dass er erst jetzt das Ausmaß der Verbrechen in Stutthof begriffen habe. Wie sehr es ihn quäle und dass er sich sein Alter so nicht vorgestellt habe. Das zeigt, dass er nicht wirklich etwas verstanden hat. Den Toten von Stutthof ist nicht nur irgendein Alter, ihnen ist das Leben verweigert worden, und die Überlebenden haben sich ihr Leben und ihr Alter sicherlich anders vorgestellt.
Dennoch ist das nur ein alter Mann, dessen Einsicht und Reue man moralisch, nicht aber rechtlich einfordern kann. Die Opferanwälte, die 36 Überlebende Stutthofs vertreten, haben eine Freiheitsstrafe mit Bewährung gefordert. Sie wollten Bruno D. nicht im Gefängnis sehen. Dieser Einschätzung ist das Gericht gefolgt.
Ein Prozess wie dieser gereicht nicht zur politischen Aufarbeitung. Dies hätte viel früher geschehen müssen. Er durfte auch nicht instrumentalisiert werden als Fanal gegen heutigen Rechtsextremismus. Niemand versteht das offensichtlich besser als die Überlebenden von Stutthof. Man solle ihm vergeben, hat einer von ihnen durch seinen Anwalt übermitteln lassen. Wer wenn nicht die Überlebenden wüssten besser, was zwar nicht unbedingt Recht, aber richtig ist?
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