• Berlin
  • Hausbesetzungen in Berlin-Friedrichshain

Auf den Barrikaden

Hausbesetzungen gehören seit 30 Jahren zur DNA von Berlin-Friedrichshain

  • Georg Sturm
  • Lesedauer: 5 Min.

»Spekulation, Entmietung, Verdrängung stoppen« heißt es auf einem von mehreren Bannern, die an der Fassade des bunt bemalten vierstöckigen Hauses am Boxhagener Platz hängen. Wenige Meter entfernt stehen etwa ein Dutzend Menschen bis auf die Straße Schlange, um einen Tisch in einem veganen Thai-Restaurant zu ergattern. Nebenan, im linken Kulturzentrum »Zielona Gora«, mitten im Herzen des Friedrichshainer Südkiezes, startet an diesem Donnerstagnachmittag die Stadtführung »Von der Mainzer Straße 1990 bis zur Rigaer Straße heute«.

Seit etwa drei Jahren führt der Zeitzeuge Andreas Winter durch das geschichtsträchtige Viertel im Osten Berlins. Als Sprecher der Mainzer Straße, langjähriger Hausbesetzer und ehemaliger parteiloser Bezirksverordneter, kennt sich Winter im Bezirk aus. Organisiert wird die Führung vom Friedrichshain-Kreuzberg Museum und dem Jugend[widerstands]museum.

Im schwarzen Anzug und weißen T-Shirt steht der 55-jährige Winter vor den Teilnehmern der Führung. Mit einer Zigarette im Mundwinkel und Limonade in der Hand berichtet er, wie es ihn vor über dreißig Jahren nach Berlin verschlug: »Während meines Studiums der Geschichte und Philosophie in München habe ich mich bei einer Anti-Atom-Demonstration kurz nach Tschernobyl radikalisiert.« Daher sei er Ende der 1980er Jahre nach Westberlin gezogen, erzählt der gebürtige Oberbayer. Nachdem er an der Westberliner-Hausbesetzer-Szene abgeprallt war, witterte Winter, der schon damals vom Wohnen in einem Hausprojekt träumte, im Jahr der Wende seine Chance. Am 6. Mai 1990 zog er in die besetzte Mainzer Straße 8. Seit Ende April waren in dem Straßenzug zwölf der 28 Häuser besetzt worden. Die Mainzer Straße war Anfang der 1990er Jahre das Zentrum der Friedrichshainer Hausbesetzerszene und gilt noch heute als Symbol der Ost-Berliner Hausbesetzerbewegung.

Gut dreißig Jahre später steht Winter nun erneut vor dem Haus und zeigt ein Bild in die Runde. Darauf zu sehen: Eine dunkle Tür, auf der in weißen Lettern ein Zitat aus Bertolt Brechts »Resolution der Kommunarden« prangt: »In Erwägung daß da Häuser stehen / während ihr uns ohne Bleibe laßt / haben wir beschlossen jetzt hier einzuziehen / weil es uns in unseren Löchern nicht mehr paßt«. Davor steht ein Polizist mit Schutzhelm und schwarzen Handschuhen, der mit einer Axt auf die Tür einschlägt.

Das Bild stammt vom 14. November 1990. An diesem Tag kam es im Zuge der Räumung der besetzten Häuser zu einem der größten Polizeieinsätze Deutschlands in der Nachkriegszeit. An der Scharnweber/Ecke Colbestraße hält Andreas Winter an, um von den Straßenschlachten rund um die Räumung zu berichten. Dort an der Ecke liegt das Wohnprojekt »Scharni 38«. Auf der Fassade des mehrstöckigen Eckhauses prangt ein meterhohes Logo der Antifaschistischen Aktion sowie die Sprüche »Gegen jeden Antisemitismus«, »Nie wieder Deutschland« und »Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat«.

Schräg gegenüber malt Winter mit Kreide ein Straßennetz auf den Bürgersteig, das wie ein Schlachtplan wirkt. Mit leuchtenden Augen erklärt er, wie sich die Hausbesetzer damals gegen die Räumung der Mainzer Straße verteidigten. In den Tagen zuvor hatten die Besetzer mehrere Barrikaden in den umliegenden Straßen errichtet und mithilfe eines gestohlenen Schaufelbaggers Gräben ausgehoben. Etwa 500 bis 1000 Menschen seien an den Barrikaden beteiligt gewesen, schätzt Winter. Im Zuge der Räumung kam es zu mehreren Hundert Festnahmen. Dieser Straßenschlacht seien zahlreiche Auseinandersetzungen mit rechten Jugendlichen vorausgegangen, erzählt der Hausbesetzer-Veteran. »Wir hatten den ganzen Sommer Stress mit den Nazis.« Wie gefährlich die Konflikte mit der rechten Szene in der Nachwendezeit sein konnten, wird an der nächsten Station der Kieztour deutlich. »Kein Vergeben! Kein Vergessen!« steht dort, im U-Bahnhof Samariterstraße, auf einer Gedenktafel. Diese ist dem Hausbesetzer Silvio Meier gewidmet, der am 21. November 1992 von Neonazis erstochen wurde. »Es hätte jeden von uns treffen können«, sagt Winter, der Silvio Meier persönlich kannte.

Von dort aus führt die Tour in den Friedrichshainer Nordkiez und damit zu den aktuellen Auseinandersetzungen um die dortigen Projekte. Vor der »Rigaer 78« wird die Gruppe von einigen angetrunkenen Punks angepöbelt, die dahinter eine Touristenführung vermuten. »Wer bist du?«, fragt einer der Punks. Winter, der im Laufe der Tour von mindestens einem Dutzend Personen gegrüßt wurde, ist erstaunt, nicht erkannt zu werden. Er solle sich mal nach dem alten Mann im Anzug erkundigen, antwortet Winter verschmitzt, man kenne ihn hier. »Ich bin der Einzige, der in der Rigaer Straße Anzug tragen darf«, sagt die Kiez-Legende.

Ihr Ende findet die Führung auf dem »Dorfplatz« vor dem anarcha-queer-feministischen Hausprojekt »Liebig34«. Drei Polizeiwannen und zwölf Polizisten an der Kreuzung Rigaer/Liebigstraße zeugen von den Auseinandersetzungen der letzten Wochen. Wenige Meter entfernt liegt die berühmt-berüchtigte »Rigaer94«. Zuletzt hatte die Polizei dort Anfang Juli eine Razzia durchgeführt, im Zuge derer der vorgebliche Hausverwalter Torsten Luschnat mit Bauarbeitern und Security versuchte, Teile des Hauses rechtswidrig zu räumen (»nd« berichtete).

»Es ist wieder wie früher«, sagt Winter mit Blick auf die Angriffe und drohenden Räumungen. »Wenn es gegen Linksradikale geht, nimmt die Polizei heute wie damals die Gesetze nicht so ernst.« Es brauche daher dringend mehr Aufklärung über die historischen und aktuellen Konflikte in Friedrichshain, sagt Winter, der die Führung von nun an jeden Donnerstag anbieten will. Er ist sich sicher: »Hausbesetzungen gehören zur DNA unseres Kiezes.«

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