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»Proteste haben in Bulgarien Tradition«
Der Soziologe Lyubomir Pozharliev über die Regierungskrise und Verbindungen zwischen Oligarchie und Politik
Bulgarien steckt tief in einer politischen Krise. Seit Wochen protestieren die Menschen gegen die Regierung. Als Reaktion initiierte die parlamentarische Opposition unter Führung der Sozialisten vergangene Woche ein Misstrauensvotum, das jedoch mit den Stimmen der Regierungsmehrheit abgeschmettert wurde. Doch die Proteste halten weiter an. Warum?
Der Protest ist ein Ausdruck der bulgarischen Transformation und richtet sich in erster Linie gegen die Oligarchie und die Mafia sowie deren Verbindungen zur Regierung. Unmittelbarer Auslöser waren einige Skandale der politischen Elite, darunter illegale Baugeschäfte an der bulgarischen Küste, ein seit Jahren gesellschaftlich sehr umstrittenes Thema.
Zweitens hat die Regierung in jüngster Vergangenheit die staatliche Kontrolle über besonders lukrative Wirtschaftszweige ausgeweitet,Der Soziologe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Postdoktorand am Institut für osteuropäische Geschichte der Justus-Liebig-Universität Gießen und forscht unter anderem zur Kulturgeschichte der Infrastruktur und Technologie, osteuropäischem Staats- und Postsozialismus sowie Nationalismus. Mit ihm sprach für »nd« Felix Jaitner.
Die Sozialisten um Staatspräsident Rumen Radew unterstützen die Proteste, derweil machen die Protestierenden immer wieder deutlich, dass sie eine Vereinnahmung durch eine einzelne Partei ablehnen. Wie ist das Misstrauen gegen die etablierten politischen Parteien und die demokratischen Institutionen zu erklären?
Um nur ein Beispiel zu geben: Radew fordert seit den Protesten den Rücktritt der Regierung und des Staatsanwaltes. Mit dieser Rücktrittsforderung überschreitet er jedoch seine von der Verfassung garantierten Rechte, deshalb ist diese Forderung hochgradig problematisch.
Neben dem Rücktritt der Regierung und des Generalstaatsanwalts fordern die Protestierenden ein Ende der »Oligarchisierung« des Landes. Was ist damit gemeint?
In Bulgarien sind die Verbindungen zwischen Oligarchie, organisiertem Verbrechen und der politischen Elite äußerst eng. Ein Tycoon wie der bereits erwähnte Wasil Boschkow zieht seit 30 Jahren im Hintergrund die Strippen, länger als jede demokratisch gewählte Partei. Das gilt auch für einige andere Oligarchen wie Ahmed Dogan, der langjährige Parteivorsitzende der »Bewegung für Rechte und Freiheiten«, die Interessenvertretung der türkischen Bulgaren. Diese Leute pflegen enge Beziehungen zu jeder einflussreichen politischen Partei im Land, mit problematischen Folgen: In Bulgarien gibt es ein großes Repräsentationsproblem. In keinem anderen EU-Land - außer in Kroatien - ist die Medienfreiheit so bedroht. Das zeigt auch die Berichterstattung über die Proteste, die oft kaum objektiv ist. Deshalb wird auch immer wieder der Rücktritt des Vorsitzenden des staatlichen Fernsehens gefordert. Hinzu kommt: Der zweitgrößte TV-Sender Nova TV gehört zwei Brüdern mit exzellenten Beziehungen zu Ministerpräsident Bojko Borissow.
Wer sind die Protestierenden?
Die Zusammensetzung der Proteste ist sehr divers und wird vor allem von jungen Menschen getragen. Sichtbar sind neben Vertretern von zivilgesellschaftlichen Organisationen die Anhänger verschiedener Parteien wie »Ja, Bulgarien!«, eine linksliberal-grüne und pro-europäische Kraft, die sich stark gegen Korruption engagiert. Da sie erst 2017 gegründet wurde, ist die Partei nicht im Parlament vertreten. Auch die Sozialisten, die größte Oppositionspartei, sind auf die Protestwelle aufgesprungen, wobei sie keinesfalls der wichtigste Akteur sind. Nicht zuletzt mobilisieren einzelne Oligarchen wie Boschkow, deren Geschäftsinteressen unmittelbar durch die Regierung bedroht sind, ihre Anhänger. Dementsprechend gibt es sehr unterschiedliche inhaltliche Forderungen.
Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Von 2013 bis 2014 wurde die bulgarische Gesellschaft ebenfalls von einer landesweiten Protestwelle ergriffen. Auch damals lauteten die Forderungen: ein Ende der Oligarchie und der Vetternwirtschaft, eine Reform des politischen Systems und eine Verbesserung des Lebensstandards. Seither wurde wenig erreicht. Warum sollte es dieses Mal besser werden?
Es ist bereits ein großer Erfolg, dass die Menschen ihre demokratischen Rechte einfordern. Es gibt Leute, die seit 1989 an den meisten Protesten teilgenommen haben. Neu ist jedoch, dass die sogenannten Millenials zum ersten Mal auf der Straße sind. Proteste haben im postsozialistischen Bulgarien Tradition. Es ist richtig: Die Protestbewegung in den Jahren 2013 bis 2014 entstand aus denselben Gründen, aber das bedeutet auch, dass sich in Bulgarien seit der Transformation eine Tradition herausgebildet hat, Bürgerrechte auszuüben und von der Politik einzufordern. Dieses Verständnis der Proteste ist viel aufschlussreicher als die offizielle Erzählung der Regierung, wonach sie ausschließlich von im Hintergrund agierenden Einflussgruppen gesteuert werden. Außerdem wurden, trotz der heterogenen Forderungen, bereits Erfolge erzielt: Aufgrund des wachsenden öffentlichen Drucks musste Ministerpräsident Borissow drei Minister entlassen, weil ihnen enge Verbindungen zu Oligarchen nachgewiesen werden konnten. Die Bulgarische Öffentlichkeit weiß jetzt viel mehr, als vor einem Jahr.
Ich bezweifle allerdings, dass die Proteste zu einem grundlegenden Wandel führen werden. Sogar Präsident Radew fordert inzwischen einen Systemwandel, das Problem ist nur: Niemand weiß, wie das zu bewerkstelligen ist. Wahrscheinlich ist eher, dass die Regierungsparteien sich stärker fragmentieren und die Opposition von den Protesten profitieren wird, darunter »Ja, Bulgarien!«. Ich würde allerdings auch nicht ausschließen, dass einige Oligarchen ein eigenes politisches Projekt starten.Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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