Aufstehen, jeden Tag und überall
Rainer Thiel macht sich Gedanken über unsere Gesellschaft
Stefan Bollinger
Wovon lebt die Linke? Sicher nicht von endlosem Theoretisieren und Diskutieren. Sie muss handeln, überall und zu allen Themen, die die Menschen bewegen, verwirren, entsetzen. Rainer Thiel, unangepasster Ingenieur und Philosoph mit nicht bilderbuchmäßiger DDR-Vita gehört, einer der Initiatoren von Erfinderschulen im ostdeutschen Staat (eine eher basisdemokratische Kreativwerkstatt, die Mensch und Wirtschaft bewegen wollte), sieht sich in der Pflicht zur Mahnung. Vordergründig ist sein neues Buch eine Hommage an die so rasch kleingeredete, versandete, vielleicht auch schlecht geführte »Aufstehen«-Bewegung jüngster Vergangenheit. So sehr Thiel auch deren Geist beschwört, ihm geht es weniger um Personen und gewesene Aufrufe.
Nach der Wende ist er immer wieder an den Brennpunkten der sozialen und politischen Kämpfe. Er erlebt keine Ruhmesgeschichte von PDS und der Partei Die Linke. Zu sehr waren und sind die Genossen in den Alltagsgeschäften, Zwängen und Ritualen von Partei und Parlamentarismus verfangen. Sie »sprechen von Solidarität für die Armen und Ärmsten. Doch diese bemerken es gar nicht. Hat die Partei eine Strategie zur Problemlösung?«, fragt Thiel und antwortet: »Daran fehlt es ... Die Linkspartei müsste an der Spitze aller Parteien stehen.«
Es ist offensichtlich, das benannte Problem treibt diesen Sympathisanten der Linken, der irgendwann Anfang der 1990er der Partei verloren ging, mächtig um; er mischt sich immer wieder ein, gibt keine Ruhe. Er ist unzufrieden mit dieser Partei, will Bündnisse schmieden mit Sozialdemokraten, Kirchenleuten und - Gott bewahre - auch mit MLDP-lern. Und er packt selbst an. Anschaulich schildert er beispielsweise sein Engagement zur Rettung von zur Schließung verurteilten Schulen im Brandenburgischen. Der Graukopf findet eine gemeinsame Sprache mit Schülern, die in Storkow einen Schulstreik organisieren, in Cottbus Schulen bewahren wollen oder gegen Fahrtkosten für die Schulbusse sind. Für ihn alles Beispiele »gewaltfreier Machtentfaltung«. Er engagiert sich für eine solide Bildungspolitik und lässt Sparzwänge nicht gelten. Die Montagsdemonstrationen galten ihm einst als Keime einer neuen Massenbewegung.
Thiel vertraut immer wieder auf Basis-Netzwerke unterschiedlichster Art: Deutsche Friedensgesellschaft, Attac, Campact, Amnesty International, Greenpeace, Gewerkschaften. »Mögen sie die neue Lobby im Bundestag werden«, hofft er, der wenig von den etablierten Parteien hält und anstelle des Bundestages einen basisdemokratischen »Volkskongress« favorisiert. In Netzwerken finden sich Menschen verschiedenster Sozialisation und Weltanschauung zusammen, streiten und ringen gemeinsam um Lösungen. Dass diese Strukturen allerdings auch immer wieder zerfallen, weil ihnen letztlich eine verbindende Kraft fehlt, thematisiert Thiel nicht. Sein Buch ist als Stichwortgeber zu verstehen, es fordert zum Widerspruch heraus und zwingt zum Weiterdenken auch im Widerspruch. Es quillt über von Ideen und Vorschlägen aus 30 Jahren Kampf um Verbesserungen in dieser bundesdeutschen, kapitalistischen Gesellschaft, im Kleinen wie im Großen.
Ja, und warum sollte nicht noch einmal das gelingen, was Bürger im letzten Jahr der DDR erlebten, anstießen, unternahmen - um ihren Staat zu verändern. Auch wenn dieser Aufbruch letztlich missglückte, das Potenzial an Handlungsbereitschaft und Politisierung war enorm. Im Übrigen, dieser »jugendliche Hitzkopf« Rainer Thiel steht in seinem neunten Lebensjahrzehnt. Sein Leitspruch bleibt: »Aufstehn, sammeln, links und nahebei.«
Rainer Thiel: Aufstehn, sammeln, links und nahebei. Was denn sonst? Novum Verlag, 204 S., br., 17,90 €.
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