Allahs Influencer

Die Hagia Sophia ist wieder Moschee, der Tourist sollte deswegen nicht barmen

  • Nicole Quint
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Aufschrei der Empörung war lauter als der Ruf des Muezzins, als nach acht Jahrzehnten zum ersten Mal wieder ein Freitagsgebet in der Hagia Sophia in Istanbul stattfand. Fragt sich bloß, wann all die Entrüsteten das letzte Mal in der deprimierend langen Schlange standen, um die einstige Kirche der heiligen Weisheit zusammen mit zahllosen anderen Wartenden zu kapern. Vor allem in der Hochsaison fallen täglich Tausende Touristen wie eine Heuschreckenplage auf die Hagia Sophia hernieder, schieben sich durch das Unesco-Weltkulturerbe und trampeln über den Zauber der Geschichte hinweg. Sie fluten den märchenhaft riesigen Kuppelraum, fotografieren in einem Crescendo aus Kameraklicken die sakrale Architektur nieder, posieren für ein schnelles Selfie vor der Minbar (Kanzel) und lehnen sich gegen die großen Alabastervasen aus Pergamon - und das alles in Muskelshirts, Miniröcken und Flip-Flops. In diesem Aufzug könnte man sie ebenso gut für eine Pool-Party-Gesellschaft halten, die nur einen kurzen Abstecher ins kühle Innere der Hagia Sophia unternimmt. Gelangweilt von dieser 1500 Jahre alten Offline-Welt beginnen Smartphone-Besitzer, die überall angebrachten QR-Codes zu scannen. So rufen sie sich Informationen über byzantinische Baukunst auf ihre Displays, wischen diese aber ungelesen wieder weg, denn die Architektur, die sie sich hier bieten lassen müssen, entspricht so gar nicht ihrem Geschmack. Auf Tripadvisor urteilt Bärbel: »Von außen schöner als von innen - in die Jahre gekommen!« Sie wird unterstützt von einem Reisenden aus Düsseldorf: »Ein Schrotthaufen. Einfach unspektakulär. Unattraktive Location.« Stilles Staunen über den ganzheitlich großartigen Raum ist offenkundig nicht jedermanns Ziel.

Eintausend Jahre lang war die Hagia Sophia das größte Gotteshaus der Christenheit und diente nach der Eroberung Konstantinopels fast 500 Jahre als Moschee. Soll sie den Test der Jahrhunderte bestanden, Feuer und Erbeben getrotzt haben, nur um als touristische Sehenswürdigkeit zu enden? Als Museum war sie nicht mehr als eine hübsche Attrappe eines Ortes, der die Überreste seiner Vergangenheit wie eine Ware in die Auslage eines Schaufensters legt. Eine Vergangenheit, nach der viele Türken - und eben nicht nur national-religiös gesinnte Muslime - sich zurücksehnten. Darin liegt keine verklärende Rückwärtsgewandtheit, sondern der Kummer darüber, etwas Geliebtes verloren zu haben.

86 Jahre lang Museum

Im 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurde die Hagia Sophia als Kirche erbaut und nach der Eroberung Konstantinopels (heute Istanbul) durch die Osmanen in eine Moschee umgewandelt. Auf Anordnung des türkischen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk wurde das Gebäude 1934 zum Museum. Am 10. Juli 2020 annullierte das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei den Status der Hagia Sophia als Museum. Präsident Recep Tayyip Erdogan ordnete daraufhin die Nutzung als Moschee an.

egierungskritiker werfen ihm seit Langem vor, das Land zu islamisieren und den in der Verfassung festgelegten Laizismus - also die Trennung zwischen Religion und Staat - zu untergraben. Der Kolumnist Merdan Yanardag schrieb: »Es ist ein Angriff auf die Gründungsideen der Republik und die fortschrittlichen Werte, die von ihr ausgehen.« Auch international stieß die Umwandlung des berühmten Gebäudes auf scharfe Kritik. Agenturen/nd

In Europa führen sinkende Zahlen von Gläubigen seit Jahrzehnten dazu, dass christliche Gotteshäuser entweiht und einem profanen, meist konsumorientierten Zweck zugeführt werden. Altäre und Kirchenbänke machen Platz für Buchhandlungen, Bars, Restaurants, Supermärkte und sogar Fitnessstudios, ohne dass übermäßiges Bedauern darüber verlautbart würde. Nun aber spielen selbst viele Nichtreligiöse auf Knopfdruck das Lied von der Solidarität mit der Christenheit. Es täte diesen Kritikern gut, wenn sie ihre ideologischen Sicherheitsgurte anlegen und gelassen nach Istanbul schauen würden: Das Leben hat mit der Hagia Sophia einen Fortsetzungsroman geschrieben, und Allahs Influencer fügen nun ein neues Kapitel hinzu. Das Fließband der touristischen Produktion wird dadurch ja nicht gestoppt, nur ein wenig verlangsamt. Außerhalb der Gebetszeiten wird die Moschee weiterhin für Besucher geöffnet bleiben und ihr Mosaik- und Figurenschmuck bloß während der religiösen Zeremonien abgedeckt. Die momentane Empörung wird nach und nach ermatten, weil kein Eintrittsgeld mehr gezahlt werden muss und auch, weil manch einer sich an Lessings »Nathan der Weise« über die Gleichwertigkeit der Religionen erinnert und versöhnlich gestimmt wird durch den Rat »Sei keinem Juden, keinem Muselmanne zum Trotz ein Christ!«

Langzeitschäden sind vor allem bei den Reiseveranstaltern zu erwarten. Die stehen vor der Herausforderung, exakt getaktete Touren zu entwickeln, um ihre Kreuzfahrtpiraten, die bislang mit überfallartiger Wucht durch die Hagia Sophia gespült wurden, zwischen zwei Gebeten hineinzuschleusen. Wenn der Muezzin fünfmal am Tag von der Größe Allahs und seines Propheten singt, wissen fortan also auch alle Touristen, was ihnen die Stunde geschlagen hat: Erst kommt das Spirituelle, dann das Selfie. Die Zeit dazwischen kann eine Zeit der Vorfreude sein, eine Zeit der Begegnung und eine des Nachdenkens über islamische Sitten und Gebräuche. »Wer reist, um Wissen zu finden, dem wird Gott das Paradies zeigen.« Das steht in keinem Reiseführer, das steht im Koran.

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