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- Diskriminierung von Sinti und Roma
Antiziganismus bleibt ein Tabuthema
Der 2. August ist der Internationale Tag des Gedenkens an den Genozid an den Sinti und Roma
Am 2. August gedenken wir der 4300 Kinder, Kranken und Alten mit Romani-Hintergrund, die 1944 als letzte Insassen des KZ Auschwitz-Birkenau von den Nationalsozialisten in den Gaskammern ermordet wurden. Warum tun wir dies? Ist das denn heute im Jahre 2020 noch notwendig? Haben die nachfolgenden Generationen aus dieser grauenvollen und unmenschlichen Zeit deutscher Geschichte gelernt? Antiziganismus war damals tödlich und ist in die systematische Verfolgung und Vernichtung von Menschen mit Romani-Hintergrund gemündet. Wie sieht es heute aus?
Auch im Europa des 21. Jahrhunderts werden Menschen mit Romani-Hintergrund Opfer von Diskriminierung und Ausgrenzung. Sie wurden, wie kürzlich in Hanau, Opfer rassistischer Mordanschläge, oder wie in einem aktuellen Fall in Freiburg, von Polizeigewalt. In osteuropäischen Ländern wird ihnen der Zugang zu Trinkwasser und Gesundheitsversorgung verwehrt, und in der Öffentlichkeit werden sie als Verursacher und Träger von Covid-19 verunglimpft.
Als deutscher Sinto weiß ich sehr gut, dass wir Menschen mit Romani-Hintergrund in allen Lebensbereichen, in der Schule, bei der Arbeit oder der Wohnungssuche massive Diskriminierung erleiden. Eine extreme Form davon stellt die Ausbeutung von Menschen mit Romani-Hintergrund in der Arbeitswelt dar. In Werkvertragsanstellungen in der deutschen Fleischindustrie oder im Pflegesektor in Ungarn ist unter dem Deckmantel von Beschäftigungspolitik ein System moderner Sklaverei entstanden.
Dies alles ist möglich, weil Antiziganismus in Europa immer noch gesellschaftsfähig ist. Die Mehrheitsgesellschaft weiß nichts bis wenig über Menschen mit Romani-Hintergrund, und der Kenntnisstand beschränkt sich auf stigmatisierende und rassistische Klischees, die sich aus dem Spätmittelalter in die Moderne und aus dem Nationalsozialismus ins Nachkriegsdeutschland tradiert haben. Unsere Bildungsinstitutionen versäumen eine Aufklärung, und öffentliche Institutionen vermeiden weitgehend eine kritische Aufarbeitung der eigenen Rolle in dieser langen Geschichte von Diskriminierung.
Aber trotz all dieser schmerzhaften Realitäten wäre es falsch zu sagen, dass sich in den letzten Jahrzehnten nichts an der Situation von Menschen mit Romani-Hintergrund verändert hat. 37 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, den nur etwa zehn Prozent der deutschen Sinti und Roma überlebt haben, wurde 1981 endlich der Völkermord an unseren Menschen seitens der Bundesregierung anerkannt. Ein Hungerstreik von Holocaust-Überlebenden und Nachgeborenen der Deutschen Sinti und Roma im ehemaligen KZ Dachau hat die Welt auf die Ungerechtigkeit der Nichtanerkennung des Leids aufmerksam gemacht. Dies bewegte den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt dazu, den Völkermord an den Menschen mit Romani-Hintergrund anzuerkennen.
Anfang der 1990er Jahre forderten die Bürgerrechtsaktivist*innen der Selbstorganisationen der Sinti und Roma die Bundesregierung auf, ein Mahnmal und einen Gedenkort für die 500 000 im Nationalsozialismus ermordeten Menschen mit Romani-Hintergrund zu errichten. 20 Jahre dauerte dieser Kampf, der von Demütigung und Respektlosigkeit geprägt war. Am 24. Oktober 2012 war es dann endlich so weit, und unser Mahnmal wurde eingeweiht. Die Überlebenden und wir Nachkommen sollten nun endlich einen Ort haben, an dem wir unsere Toten, die bis dato kein Grab gefunden hatten, beerdigen konnten und ihrer würdevoll gedenken können.
Anfang 2020, nur acht Jahre später, wird bekannt, dass dieses Denkmal zugunsten einer S-Bahn-Linie abgebaut werden soll. Berlins Senat hat versäumt, das Mahnmal zu einem Zwangspunkt zu erklären, wie es auch richtigerweise beim Mahnmal der ermordeten Juden getan wurde. Die Unantastbarkeit dieses Denkmals darf niemals infrage gestellt werden! Dies würde alles bisher im Positiven Erreichte mit einem Schlag zerstören.
Was haben wir aus der Vergangenheit gelernt? Antiziganismus ist weiterhin ein Tabuthema, das ignoriert wird. Die Geschichte unserer Menschen, auch der nationalsozialistische Teil, ist noch lange nicht im Gedächtnis der Mehrheitsgesellschaft, der Politik und Institutionen angekommen. Deswegen ist Gedenken unerlässlich.
Romeo Franz (Grüne) sitzt als erster deutscher Sinto im EU-Parlament.
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