»Mir sind viele Lichter aufgegangen«

Helen Keller kam über den Umweg Genderstudies zu Human-Animal-Studies. Sie wünscht sich ein anderes Verhältnis zwischen Menschen und Tieren

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 7 Min.

Würden Sie sich als Mensch oder als Tier bezeichnen?

Ich würde mich als beides bezeichnen. Biologisch betrachtet, sind Menschen Säugetiere. Sie sind aber eine ganz besondere Spezies. So wie jede andere Tierart auch.

Warum ist es Menschen so wichtig, sich von Tieren abzugrenzen?

Ich denke, das hat damit zu tun, wie wir Tiere nutzen wollen. Um das zu tun, was wir schon seit langer Zeit mit ihnen machen - sie für Nahrung, Kleidung oder Tierversuche benutzen -, brauchen wir diese Abgrenzung. Das kennt man auch von innermenschlichen Beziehungen. Bevor man eine Gruppe ausbeuten kann, muss man sie erst einmal ausgrenzen und als »das Andere« definieren. Das stützt auch die eigene Identität als Gruppe. Ideengeschichtlich betrachtet, ist der Mensch eigentlich immer schon zum Menschen gemacht worden, indem er vom Tier abgegrenzt wurde. Das fängt bei Aristoteles an und geht weiter über Descartes bis Kant.

Die Human-Animal-Studies beschäftigen sich mit dieser Grenze, aber auch anderen Verhältnissen zwischen Menschen und Tieren. Wie sieht das konkret aus?

Ich bin Mitglied im Arbeitskreis Chimaira. Wir würden uns eher einer kritischen Richtung zuordnen, die politische und gesellschaftliche Veränderungen möchte - sich aber auch als intersektional versteht. Das heißt: Es geht nicht darum, nur Menschen und Tiere zu betrachten, sondern auch darum, zum Beispiel auf Race, Gender und andere Kategorien zu schauen. Denn es gibt »den Menschen« genauso wenig wie »das Tier«. Insgesamt aber sind Human-Animal-Studies ein breites Feld, in dem auch deskriptiv geforscht wird - da können auch Tiermotive auf Vasen dazugehören.

Sie selbst forschen für Ihre Promotion zum Thema Männlichkeit und Tiere. Welchen Zusammenhang sehen Sie da?

Ich bin darauf gekommen, weil Männer in den meisten Ländern deutlich mehr Fleisch konsumieren als Frauen. In den Bildern, die ich untersuche, zeichnet sich Männlichkeit dadurch aus, viel Fleisch zu essen - und man sich dabei möglichst wenig Gedanken darüber macht, wo dieses Fleisch herkommt. Es gibt auch Food-Adventure-Serien wie »Beef Buddies«, in denen Männer in die Natur gehen und jagen, Tiere töten und das als Form ursprünglicher Männlichkeit betrachten. Tatsächlich geht es oft darum, dass die echte, wahre Männlichkeit verloren gegangen ist oder bedroht wird - durch Frauen und Vegetarismus.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich für Geschlechter- und Mensch-Tier-Verhältnisse zu interessieren?

Die Genderstudies kamen zuerst. Ich musste aus der Not heraus in meinem Literaturwissenschaftsstudium ein Gender-Seminar belegen, weil es in anderen keinen Platz mehr gab. Dabei sind mir viele Lichter aufgegangen. Ich war dann erst mal sehr mit der Kategorie Geschlecht beschäftigt, bevor postkoloniale Theorien dazu kamen. Danach entdeckte ich das Thema Mensch-Tier-Verhältnisse für mich. Denn ich dachte: Die Genderstudies kritisieren die ganze Zeit Dichotomien und Grenzziehungen. Aber die Mensch-Tier-Grenze hinterfragen sie überhaupt nicht. Wie kommt das? Auf einer Vegan-Messe habe ich einen Stand von Chimaira entdeckt und dachte: Das ist, was ich suche.

Neben Ihrer wissenschaftlichen Arbeit betreuen Sie in einer Wohneinrichtung Menschen mit psychiatrischen Diagnosen. Sehen Sie Verbindungen zu Ihrer Forschung?

Ich sehe schon strukturelle Gemeinsamkeiten, da es für mich viel um die Frage geht: Wie gehen wir mit dem um, was anders ist? Das ist in den Genderstudies und in den Human-Animal-Studies ein großes Thema. Psychiatrische Diagnosen sind auch ein Fall, in dem eine Gruppe von Menschen als anders definiert wird und sich eine Gesellschaft überlegt, wie sie damit umgeht. In unserer Einrichtung gibt es viele Menschen mit Psychosen oder Schizophrenie, was häufig als ganz andere Form der Wahrnehmung betrachtet wird. Aber darin wird sehr wenig Potenzial gesehen. Ich finde, es ist insgesamt immer noch ganz wenig Platz für das Anderssein da.

Welchen Bezug haben Sie zu Tieren? Hatten Sie mal welche?

Ich bin früher geritten - und ich hatte Haustiere: einen Hasen und ein Meerschweinchen. Heute bin ich eher schockiert darüber - obwohl ich glaube, dass mein Verhalten als Kind relativ normal war. Ich habe einfach gespielt - aber eben auch Schwimmbad oder Sprungturm. Dann musste das Meerschweinchen von einem Tisch aus auf ein Kissen springen. Heute denke ich: Oh mein Gott, das arme Tier! Ich finde es absurd, dass man einfach Tiere kaufen und besitzen kann. Seit meinem siebten Lebensjahr bin ich Vegetarierin - und Veganerin, seit ich Karen Duves Buch »Anständig essen« gelesen habe.

Wenn Sie entscheiden könnten, wie sich das Verhältnis von Menschen zu - sagen wir - anderen Tieren entwickeln sollte, wie sähe das aus?

Ganz anders. Ich habe durch Corona wieder so viele Bilder von Schlachthöfen und von Massentierhaltung gesehen - und natürlich auch von dem »Wet Market« in Wuhan, wo Menschen sich wahrscheinlich zuerst mit Corona angesteckt haben. Das kann ich wirklich kaum aushalten. Ich wünsche mir ein Verhältnis, das von weniger Gewalt und mehr Inklusion geprägt ist. Wie das genau aussehen würde, muss diskutiert werden. Es gibt im Tierrechtsbereich und in der Tierethik unterschiedliche Ansätze. Auf jeden Fall geht es um eine weniger starke Grenzziehung und eine ethische Berücksichtigung aller Tiere - was für mich mindestens bedeuten würde, dass deren Tötung nicht mehr legitim ist.

Was würde sich denn verändern, wenn die Grenze zwischen Tier und Mensch verblasst?

Ich glaube, dass sich so gut wie alles ändern würde. Wir könnten Tiere nicht mehr so benutzen, wie wir es tun. Ich glaube aber auch, dass andere, nicht hierarchische Kontakte möglich wären. Wir hatten in unserer Chimaira-Ringvorlesung an der Humboldt-Universität eine Forscherin eingeladen, die mit Pferden zusammenlebt. Sie reitet aber nicht, weil sie das ablehnt. Sie probiert stattdessen aus, wie ein möglichst gleichberechtigter Kontakt stattfinden kann. Ich glaube, dass es Menschen insgesamt besser gehen würde, weil die meisten meiner Erfahrung nach Tieren kein Leid zufügen wollen. Ihnen ist aber bewusst, dass das durch unsere Ernährung passiert. Diese Tatsache muss man verdrängen, und diese Inkongruenz ist wahnsinnig anstrengend.

Ihre Kritik stellt vieles infrage, was selbstverständlich erscheint. Da kommt sicher auch Gegenwind?

Die Kritik bezieht sich in der Regel nicht auf unsere Forschung an sich, sondern auf deren politische Aspekte. Ich selbst verstehe mich auch als Aktivistin und nicht nur als Wissenschaftlerin. Aus linker Perspektive kommt beispielsweise das Argument, der Fokus auf Tiere verhindere, dass genug Aufmerksamkeit für unterprivilegierte Menschen da ist. Ich denke aber, das ist kein Widerspruch. Die Menschen, die ich kenne, setzen sich für beides ein. Eine andere Kritik hat ihren Ursprung in der Angst vor einer Abwertung von Menschen. Ich sehe es aber nicht so, dass Menschen an Wert verlieren, wenn man davon ausgeht, auch sie seien Tiere. Die kritischen Human-Animal-Studies wollen Menschen keine Rechte wegnehmen, sondern den Status von Tieren verbessern. Man muss natürlich auch sagen, dass viel Gewalt über eine Animalisierung stattgefunden hat und auch noch stattfindet. In Abu Ghraib zum Beispiel mussten sich die Gefangenen wie Hunde verhalten. Auch Frauen galten lange nicht als Menschen. Da gibt es bei manchen entsprechend Ängste.

Tiernamen werden häufig auch als Schimpfworte verwendet …

Ja! Ich finde es wirklich schwierig, noch zu schimpfen. Mir fällt nichts mehr ein. Ich beiße mir ständig auf die Lippen, weil ich nicht mehr »dumme Kuh« oder »blödes Schwein« sagen will.

Haben Sie Alternativen?

Wenn man mal anfängt, darüber nachzudenken, fällt einem auf, dass Schimpfwörter meist Gruppen abwerten. Viele sind beispielsweise homophob oder setzen Menschen mit Behinderungen herab. Manchmal versuche ich deshalb konkreter zu werden und genau zu sagen, was mich an einer Person stört. Aber das ist dann schon wieder so rational, da bleibt nicht mehr viel Impulsivität. Es wird Zeit, dass jemand mal was Neues erfindet.

Interview: Inga Dreyer

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