Einfach die Hölle

Fast alle Franzosen glaubten dem märchenhaften Bild vom Kolonialismus. Albert Londres hingegen fand kein Paradies, sondern ein Massengrab vor. Seine Reportagen wurden neu aufgelegt.

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.

Albert Londres Reportagen aus den Krisengebieten des 20. Jahrhunderts gelten als frühe Zeugnisse des investigativen Journalismus. In Frankreich ist der wichtigste Journalismuspreis nach dem 1884 geborenen und 1932 gestorbenen Reporter benannt. In Deutschland hat Die Andere Bibliothek Londres Sammlung »Ein Reporter und nichts als das« wieder bekannter gemacht. Nun legt sie seine Afrika-Reportagen aus den 1920er Jahren vor. Im ersten Teil, »Schwarz und Weiß«, sind Texte versammelt, die im Herbst 1928 zunächst in der Tageszeitung »Le Petit Parisien« und kurz darauf als Buch erschienen. Der zweite Teil über die Verhältnisse in den nordafrikanischen Gefängnissen Frankreichs, »Hätte Dante das gesehen«, wurde zum ersten Mal 1924 als Buch verlegt.

Warum sollte man heute diese 100 Jahre alten Reportagen lesen? Aus historischem Interesse? - Ja, einerseits. Denn Londres zeigt, dass im Gegensatz zu der landläufigen Meinung, die größten Gräuel an der afrikanischen Bevölkerung hätten die belgischen Kolonialherren im Kongo verübt, die Franzosen mit ihrem Zwangsarbeitersystem nicht minder brutal waren. Aber die Lektüre dieser Reportagen aus dem Herzen der Finsternis lohnt auch deshalb, weil sie von einer überraschenden Aktualität sind. Die Kolonialherren von damals sind verschwunden, die Länder »befreit«, aber im Westen ist der gut gemeinte Wille, andere Länder und Menschen auf den rechten Weg zu bringen, ungebrochen. Londres selbst zum Beispiel war trotz aller Kritik am Kolonialismus durchaus dessen Anhänger, nur wollte er eine humanere Form. Ganz ähnlich werden heute Demokratie und Menschenrechte als Legitimation für Krieg und Fremdherrschaft angeführt. Mit dem Ergebnis: Bürgerkrieg in Afghanistan, ungewollte, aber faktisch »ethnisch gesäuberte« Länder wie das Kosovo oder ein vom Terrorismus zerrissenes Land wie der Irak. Mit Zehntausenden von Toten.

Für seine Reportagen machte Londres etwas, was heute, im Zeitalter der Neuen Medien, angesichts der Geldknappheit der Presseverlage immer seltener wird: Er fuhr vor Ort und schaute sich um. Fast alle Franzosen glaubten (und glauben noch heute) dem märchenhaften Bild, das die Regierung und Kolonialunternehmen vom Kolonialismus verbreiteten. Was Londres vorfand, war jedoch weder ein exotisches Paradies noch das große Abenteuer, sondern ganz einfach die Hölle. Im ersten Teil sind es West- und Zentralafrika, durch die er sich kämpft. »Kämpft« deshalb, weil Afrika damals nicht auf Fernreisende eingestellt war; in viele Orte führte weder eine Straße noch eine Eisenbahnlinie. Tagelang wanderte Londres mit einem Tross von Trägern durch den Dschungel, um endlich an die Baustelle der Eisenbahnlinie zu gelangen, die den Hafen von Pointe-Noire am Atlantischen Ozean mit der mehr als 500 Kilometer entfernten Stadt Brazzaville am Fluss Kongo verbinden sollte. Was er dort aber vorfand, waren keine Maschinen, die den Bau vorantrieben, sondern Hunderte von völlig ausgemergelten schwarzen Menschen, die mit einem einzigen Bohrer für die Sprenglöcher und mit bloßen Händen die Felsen beseitigten. Weil sich schnell herumgesprochen hatte, dass die Baustelle ein Grab war, hatte sich keiner der Arbeiter freiwillig gemeldet. Also wurden Zwangsarbeiter dorthin deportiert. Sie starben dann an Auszehrung oder grassierenden Krankheiten. In der Reportage »Schweigen über Brazzaville« vergleicht Londres das, was er sah, mit dem Eisenbahnbau jenseits der Grenze: »Ich erinnere mich, dass auf der anderen Seite des Flusses die Belgier in drei Jahren eine 1200 Kilometer lange Eisenbahnstrecke gebaut und nur 3000 Tote zu beklagen gehabt haben, während bei den Franzosen 140 Kilometer 17 000 kosteten.«

Im zweiten Teil, »Hätte Dante das gesehen«, geht es um das Gefängnissystem in den nordafrikanischen Kolonien Frankreichs. Auch hier sind die Zustände katastrophal. Die Gefangenen werden misshandelt und landen wegen geringfügiger Vergehen immer wieder für Jahre hinter Gittern. Hier sind es nicht nur Schwarze, die unter dem Kolonialsystem leiden, sondern auch weiße Franzosen und andere Europäer, die als Soldaten in den Kolonien dienten. Von ihnen profitieren nicht nur die Sadisten unter den Aufsehern, sondern auch lokale Firmen, für die die Gefangenen billige Arbeitskräfte sind. Am Ende trifft Londres auf Gefangene, die sich an die unmenschlichen Zustände so sehr gewöhnt haben, dass sie aus lauter Angst vor dem Leben in Freiheit neue Delikte begehen.

An vielen Stellen spürt der Leser das Überlegenheitsgefühl Londres gegenüber den schwarzen Afrikanern. Das wird insbesondere da deutlich, wo er das Verhältnis von Männern und Frauen beschreibt. Londres ist kein Ethnologe wie Michel Leiris, der die afrikanischen Kolonien Frankreichs ein paar Jahre später besucht und ein differenzierteres Bild der dortigen Kultur gibt. An anderen Stellen wiederum gelingt es Londres, sich in das Leben der Menschen einzufühlen. Widersprüche, die deutlich machen, wie schwer es ist, eine Kultur zu respektieren, auch wenn sie dem eigenen Gefühl von Freiheit und Gerechtigkeit nicht entspricht. Und wie leicht es dann passiert, dass man den Preis unterschätzt, den es kostet, die Menschen von der von uns empfundenen Unfreiheit und Ungerechtigkeit zu befreien.

Albert Londres: Afrika, in Ketten. Reportagen aus den Kolonien. Die Andere Bibliothek, 376 S., geb., 44 €.

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