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Der geplatzte Traum
Wie Zigtausende Mittelamerikaner machte sich der Honduraner Samael Méndez vor zwei Jahren auf den Weg in die USA. Was ist aus ihm geworden?
Ein Anruf bei Samael Méndez in San Pedro Sula, Honduras. Wie geht es ihm, mitten in der Krise, in einem der ärmsten Länder Lateinamerikas? »Warte«, sagt Samael. Und schickt per WhatsApp ein Bild. Zu sehen ist ein schwer bewaffneter Polizist, daneben ein Arzt hinter einer Nähmaschine, der sich seine eigene Schutzkleidung näht. »Eine Karikatur zur Lage in meinem Land«, hat Samael darunter geschrieben. Ein militarisierter Staat mit einem maroden Gesundheitssystem - die Karikatur trifft es ganz gut. In den vergangenen zehn Jahren hat die honduranische Regierung viel Geld in Polizei und Armee investiert, die Sicherheitskräfte unterstützen deshalb zuverlässig den zunehmend autoritären Präsidenten Juan Orlando Hernández. Der hat seine erste Wahl zum Präsidenten 2013 unter anderem mit Millionensummen finanziert, die aus der honduranischen Sozialversicherung veruntreut worden waren - später fehlte das Geld für die medizinische Behandlung der Honduraner*innen. »Ich kann wirklich nicht sagen, dass sich viel geändert hat«, meint Samael. »Die Situation in Honduras ist sehr schwierig, und die Pandemie macht alles nur noch schlimmer.«
Vor zwei Jahren hatte er noch Hoffnung. Damals, Anfang November 2018, sitzt er auf der Tribüne des Sportstadions Jesús Martínez »Palillo« in Mexiko-Stadt. Ein ernster junger Mann mit skeptischem Blick, Mitte 30. Zusammen mit anderen Migrant*innen aus Zentralamerika wohnt Samael vorübergehend hier im Stadion. Drei Wochen zuvor hatte er sich mit ein paar Hundert Menschen am Busbahnhof von San Pedro Sula getroffen, der zweitgrößten Stadt von Honduras. Sie sind dann einfach losgelaufen Richtung Norden, zu Fuß in die USA, auf der Flucht vor der Gewalt und Armut in ihrer Heimat. Als sie in Mexiko-Stadt ankommen, ist die Karawane auf mehrere Tausend Menschen angewachsen. Samael hat da schon mehr als 1500 Kilometer hinter sich - manche per Anhalter auf der Ladefläche von Lkws, viele auch zu Fuß.
Seine Familie hat er in Honduras zurückgelassen. »Nur meine Frau war wach, als ich gegen fünf Uhr morgens aus dem Haus gegangen bin, meine beiden Töchter haben noch geschlafen«, erinnert sich Samael. »Also habe ich beiden einen Kuss gegeben und mir diesen letzten Moment mit ihnen ganz fest eingeprägt. Dann bis ich losgegangen.«
Wenn Samael von Honduras erzählt, klingt er resigniert. Er hat es satt, in einem Land zu leben, wo Morde alltäglich sind - und die Täter meist nie zur Rechenschaft gezogen werden. Früher war Samael Qualitätsmanager bei einer US-Firma, doch selbst da hat sein Einkommen nicht ausgereicht, um seiner Familie ein sicheres Leben zu garantieren. »Ich habe morgens um sieben Uhr angefangen und abends um neun Uhr aufgehört - und das alles für ein Gehalt von knapp 300 Euro«, sagt Samael. »Eine ordentliche Ausbildung für meine Töchter kann ich davon genauso wenig bezahlen wie die Miete in einem Stadtteil, der nicht ganz so gefährlich und unsicher ist wie die anderen.« Als er den Job verliert, beschließt er zu gehen.
Sein Antrieb ist seine Verzweiflung. Im Stadion von Mexiko-Stadt zeigt er sein Gepäck: Mütze, Hemd, Pullover, außerdem kramt er noch einen Saft und eine Orange aus seinem Rucksack. Mehr braucht er nicht für die lange Reise. In der mexikanischen Hauptstadt gibt es viel Unterstützung für die Karawane. Die Stadtverwaltung hat große, weiße Zelte aufgestellt; Hilfsorganisationen verteilen Kleider, Schuhe und Essen oder beraten die Migranten. Auch Samael hört sich um. Doch was er erfährt, stimmt ihn wenig optimistisch. »Man sagt uns: ›Ihr habt keine Chance und werdet im Gefängnis landen, ein oder vielleicht zwei Prozent der Menschen werden ihr Ziel erreichen, und die restlichen 98 Prozent nicht‹«, erzählt Samael. »Das kann einen natürlich schon etwas entmutigen.«
Sechs Wochen später, im Dezember 2018, schickt Samael Grüße aus Tijuana. Mehr als 4000 Kilometer hat er da schon zurückgelegt. In der mexikanischen Grenzstadt ist die Karawane gestrandet, nur einen Steinwurf von Kalifornien entfernt. Samael hat bei den US-Behörden um einen Termin für seinen Asylantrag gebeten. Nun muss er warten. Am Wochenende vertreiben er und andere Migrant*innen sich die Zeit mit Ausflügen zur Grenze zwischen Tijuana und San Diego. »Wir haben uns den Zaun angeschaut - und entschieden, über die Situation lieber zu lachen als zu weinen«, sagt Samael. »Also haben wir einen Fuß durch den Zaun gesteckt und auf die andere Seite gehalten.«
Seiner Familie schickt er noch Weihnachtsgrüße, dann herrscht Funkstille. In den nächsten Wochen und Monaten ist er nicht mehr zu erreichen, seine Telefonnummer existiert nicht mehr. Erst jetzt, anderthalb Jahre später, erzählt Samael, was damals passiert ist. Kurz nach Weihnachten verliert er die Geduld. Er hat kein Geld, braucht einen Job, will endlich in die USA. Zu zwölft machen sie sich in der Silvesternacht auf den Weg über die grüne Grenze. Schon am nächsten Morgen, so der Plan, wollen sie in den USA sein. Doch da haben sie sich längst verlaufen. »Gegen vier Uhr morgens haben wir uns ein bisschen ausgeruht, weil wir unser Ziel einfach nicht gefunden haben«, erinnert sich Samael. »Außerdem waren wir müde, es war hundekalt und begann schon zu dämmern - und wir konnten ja am Tag nicht weiterlaufen.« Denn das Gebiet wird von den USA überwacht, auch mit Hubschraubern suchen die Grenzpatrouillen nach Geflüchteten. Also verkriecht sich die Gruppe erst einmal in einem Versteck. Drei Tage und zwei Nächte lang irren sie durch die Grenzregion zwischen Mexiko und Kalifornien, dann werden sie von einer US-Patrouille aufgegriffen.
Samael kommt in ein kalifornisches Auffanglager für Migrant*innen. Später landet er in Arizona, schließlich in Mississippi. Hier wird er von US-Beamt*innen angehört. Das Gespräch läuft gut, sein Asylantrag wird als glaubwürdig eingestuft. Samael schöpft Hoffnung. Dann wird er nach Louisiana verlegt. Dort soll die nächste Anhörung vor einem Richter stattfinden. »Aber diese Anhörungen liefen immer gleich ab«, erzählt Samael. »Egal, ob es Kubaner, Syrer oder Inder waren - alle Anträge wurden abgelehnt. ›Nein, nein und nein‹ - das waren die Worte des Richters.« Soll er in Berufung gehen und weiterkämpfen? Dazu fehlt Samael eigentlich die Zeit - und das Geld. »Ich war ja schon fünf Monate im Lager - sollte ich jetzt noch länger warten, ohne zu wissen worauf, weil einem niemand irgendetwas sagen konnte?«
Samael hat keinen Anwalt. Und zu Hause in Honduras muss sich seine Frau mit den zwei Töchtern alleine durchschlagen. Das Warten und die Ungewissheit haben ihn zermürbt, die Hoffnung hat er verloren. Also trifft er eine Entscheidung. »Ich habe dem Richter gesagt, dass ich Angst habe, nach Honduras zurückzukehren«, erinnert sich Samael. »Aber ich habe um meine Abschiebung gebeten und gesagt, dass ich nach anderen Möglichkeiten in meiner Heimat suchen muss.«
Einen Monat später, Ende Mai 2019, kommt er zurück nach Honduras, mit leeren Händen. Sein Traum von einem neuen Leben in den USA ist zerplatzt. Mit seiner Frau und den zwei Töchtern wohnt er wieder in seinem Häuschen am Rande von San Pedro Sula. Samael erzählt, dass auch sein Viertel von einer der gewaltsamen Jugendgangs kontrolliert wird, die die Bewohner*innen ganzer Stadtteile erpressen und terrorisieren. Er geht kaum vor die Tür. Immerhin hat er Arbeit: Ein Nachbar vermittelt ihm einen Job in einer Maquila (Billiglohnfabrik) - in seinem Fall eine Textilfabrik. »Nach der Arbeit komme ich nach Hause und bleibe dann hier«, sagt Samael. »Ich gehe nur raus zum Tante-Emma-Laden, um ein paar Dinge für meine Töchter zu kaufen.«
Dann kommt die Corona-Pandemie - und macht alles noch schwieriger: Einige Wochen kann er wegen des Lockdowns nur in Teilzeit arbeiten, sein ohnehin schon karges Gehalt wird auf etwa 25 US-Dollar pro Woche gekürzt - nun reicht das Geld hinten und vorne nicht. Zum Glück kann seine Frau von zu Hause arbeiten - sie ist Grundschullehrerin und betreut ihre Klasse über das Internet. Doch auf ihren Lohn wartet sie schon seit Wochen.
»Was wir am Dringendsten brauchen in Honduras sind menschenwürdige Gehälter, gute Arbeitsmöglichkeiten und Lebensmittel, die für alle erschwinglich sind«, sagt Samael. Doch nichts deutet darauf hin, dass sich die Situation bald zum Besseren wenden könnte. Seinen Töchtern Yanine und Diana, mittlerweile sechs und zehn Jahre alt, musste er trotzdem schwören, sich nicht noch einmal auf den Weg in die USA zu machen. Also schlägt er sich in seiner Heimat weiter durch. Er ist stolz auf seine Migrationserfahrung - auch wenn es die Geschichte eines Scheiterns ist. »Ich bereue nichts«, sagt Samael. »Später einmal werde ich meinen Töchtern wenigstens sagen können: ›Ich hatte ein Ziel, habe versucht, es zu erreichen und bin so weit gekommen, wie es nur irgend ging, und dann hat sich das Schicksal gegen mich gewandt. Aber ich habe es immerhin versucht.‹«
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