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Suche nach der eigenen Geschichte
Lange herrschte Schweigen über die Deportationen der Russlanddeutschen / Nachfahren können nun ihrer Familiengeschichte nachgehen
Es sind nur wenige Nutzer, die an diesem Tag ihren Weg in den Lesesaal des staatlichen Archivs der Oblast Schytomyr in der Nordukraine gefunden haben. Irina Peter aus Mannheim ist eine von ihnen. Ungeduldig wartet sie auf die Akten, die sie am Vortag bestellt hat. In den Jahren zuvor hat sie schon mehrfach versucht, aus Deutschland Kontakt mit dem Archiv aufzunehmen - stets vergeblich. Nun hat es vor Ort endlich funktioniert. Die Archivmitarbeiterin bringt ihr die verstaubten Bände mit dem Geburtsregister aus dem späten 19. Jahrhundert. Irina sucht die Nachnamen ihrer Urgroßeltern.
Die junge blonde Frau ist keine typische Familienforscherin und auch hier offenbar eine Ausnahme. In dem Saal sitzen ausnahmslos Männer im fortgeschrittenen Alter. Sie alle scheinen seit Langem in die Aktenberge versunken. Doch auch Irina Peter, die selbstständige Marketingmanagerin ist, begann schon vor einigen Jahren in ihrer Freizeit nach ihren Wurzeln zu forschen. Geboren in eine Familie von Wolhyniendeutschen, die 1936 in der Stalinzeit nach Kasachstan deportiert wurde, kam Irina 1992 als Aussiedlerin nach Deutschland.
»Ich begann meine Eltern intensiv mit Fragen zu löchern, wo wir denn eigentlich herkommen«, erzählt sie. In den letzten Jahren gelang es ihr, Stück für Stück ihren Stammbaum zusammenzusetzen und mehr Licht ins Dunkel ihrer weitverzweigten Familiengeschichte zu bringen.
Familienforschung als Kleinstarbeit
»Als ich nach Deutschland kam, wollte ich so deutsch sein wie möglich und nicht auffallen. Deswegen habe ich mich lange nicht für meine Vergangenheit interessiert«, erzählt Irina Peter. Erst mit Anfang 20 begann sie sich damit auseinanderzusetzen und ihre Familie bewusst auszufragen. Peter zeichnete Gespräche auf und legte Ordner an. Zu dieser Familienaufarbeitung gehörte auch die Suche in Archiven, etwa die im Bundesarchiv in Berlin. Ein Teil ihrer Familie, wie beispielsweise die Schwester ihres Großvaters, die im ursprünglich polnischen Teil Wolhyniens lebte, wurde im Zweiten Weltkrieg in der Operation »Heim ins Reich« durch die Nazis umgesiedelt. Damit wurden Stammbäume registriert und Notizen bei der Einbürgerung verfasst. Diese Daten waren für Peter Gold wert.
»So erfuhr ich, dass meine Familie ursprünglich aus Ostpreußen kam und über Polen nach Wolhynien zog, weil es da freies Land gab. Sie haben Wälder gerodet, sich niedergelassen und begonnen landwirtschaftlich tätig zu werden«, erzählt Peter. Wolhyniendeutsche sind in mehreren Schüben bis zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auf das Gebiet der heutigen Ukraine gekommen, waren Spielmasse bei der mehrfachen Teilung Polens, gerieten unter den hoheitlichen Einfluss Russlands. Schon im Ersten Weltkrieg wurden Deutsche aus Wolhynien nach Sibirien deportiert, doch konnten sie nach ein paar Jahren wieder zurückkehren. »Doch 1936 kam die zweite Deportationswelle, die wieder meine Familie traf«, erzählt Peter. Stalin ließ die Deutschen, die nah der westlichen Grenze lebten, nach Kasachstan deportieren.
Auch Irina Peters Großeltern wurden in die Nähe der heutigen kasachischen Hauptstadt Nursultan deportiert. Doch Kasachstan wurde nie zur echten Heimat für ihre Großeltern. Sie ist mit den lebhaften Erzählungen ihrer Großeltern aufgewachsen, die immer von ihren »Wolhynchen« schwärmten.
Vor einem Jahr schließlich ist Irina erstmals nach Wolhynien gereist, um die ehemaligen deutschen Siedlungen Gottliebsdorf und Horschyk, aus denen ihre Vorfahren stammen, zu besuchen. Wiedergeburt, eine Organisation von Deutschen in der Ukraine, half ihr bei der Recherche und klärte sie über die Beantragungsformalitäten und die Arbeit in den Archiven auf. Nach dieser Erfahrung organisierte sie mit Partnern ein eigenes Projekt »Deutsche Geschichte in Wolhynien«, um mit einer Gruppe junger Deutscher und Ukrainer die deutschen Spuren in der Region zu untersuchen. Dies führte sie wieder nach Schytomyr. Und hier sitzt sie nun und sucht in den Aktenbergen nach ihren Wurzeln.
Geburtsurkunden und vergilbte Karten
Dabei ist ihr bei ihrer Forschung eine Besonderheit in der Ukraine sehr hilfreich: Seit fünf Jahren sind die früheren KGB-Archive frei zugänglich. Das gilt auch für Ausländer wie Irina Peter und andere Interessierte wie Historiker, Journalisten oder Familienforscher. Es muss lediglich ein Benutzungsantrag mit Angaben zum Zweck und zu den gewünschten Akten eingereicht werden.
Das Archiv in Schytomyr ist eines der größten der gesamten Ukraine, weil Schytomyr zur Zeit des russischen Zarenreichs Gebietshauptstadt des vergleichsweise großen Gouvernements Schytomyr war. Dementsprechend stammt ein Großteil der insgesamt etwa 1,5 Millionen gelagerten Dokumente aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Aber auch bei der Suche nach Akten aus der sowjetischen Zeit wird der Benutzer fündig. Vor allem Nachkommen von Wolhyniendeutschen besuchen regelmäßig das Archiv.
Die 28 Jahre alte Archivmitarbeiterin Irina Baranjukhat fasst zusammen: »Wir können etwas über die Geschichte der Deutschen in Wolhynien aus ganz verschiedenen Dokumenten erfahren: Alte Karten und statistische Dokumente, wie etwa Namenslisten, Geburts- und Sterberegister und zum Beispiel Einbürgerungsurkunden.« Brisante Akten, wie Deportationslisten, Erschießungsbefehle, Gefangenenakten und Verhörprotokolle des sowjetischen Geheimdienstes waren lange unter Verschluss, nun sind sie frei zugänglich. Ganze Ordner, voll mit Personalakten von Angehörigen der deutschen Minderheit, die Opfer des politischen Terrors wurden, und bei einer Erschießung endeten, breiten sich auf dem Tisch aus.
Auch für den deutschen Historiker Kai Struve bedeutet die Öffnung der KGB-Archive neue Einblicke für seine Arbeit. Sein aktuelles Forschungsprojekt, das sich mit der Sowjetunion und der ukrainischen Diaspora im Westen in der Zeit des Kalten Kriegs beschäftigt, schöpft aus den KGB-Akten als einem der wichtigsten Quellenbestände.
Struve vermutet, dass aus der Zeit nach 1945 die Akten weitgehend vollständig überliefert sein dürften. Hier sind in der Regel Verhörprotokolle, Urteile und oft wohl auch Prozessakten vorhanden. Doch Akten aus der Zeit der Repressionen in den 1930er Jahren, die in verschiedenen Archivstandorten lagen, könnten in der Zwischenzeit verloren gegangen oder auch vernichtet worden sein.
Die Öffnung der Archive des Geheimdienstes in der Ukraine ist für den postsowjetischen Raum ein bisher einmaliger Prozess. Nach der Majdan-Revolution 2013/14 hatte es die neue ukrainische Regierung unter Petro Poroschenko eilig, einen schnellen und vollständig von Russland getrennten Westkurs zu fahren. Die Gesetze sehen eine umfassende Dekommunisierung sowohl des öffentlichen Raumes und Lebens als auch der Geschichte selbst vor. Etliche Denkmäler kommunistischer Führer wurden abgerissen, Straßen, Dörfer sowie ganze Städte umbenannt, und die ukrainische Geschichte des 20. Jahrhunderts soll nun durch eine radikale Öffnung der sowjetischen Geheimarchive neu interpretiert werden.
Nachzeichnung des Terrors
»Die Geschichtsgesetze des Jahres 2015 sind bei ihrer Verabschiedung teilweise heftig kritisiert worden, nicht zuletzt, weil sie eine erinnerungspolitische Aufwertung von OUN und UPA (Organisation Ukrainischer Nationalisten und die Ukrainische Aufständische Armee - Anm. d.Red.) einschlossen und verboten zu leugnen, dass diese einen Beitrag zum Kampf für die Unabhängigkeit der Ukraine geleistet hätten und dieser Kampf legitim gewesen sei«, führt Struve aus. Die Aufstandsarmee fungierte damals als militärischer Arm der Nationalisten und kollaborierte während des Zweiten Weltkrieges zeitweilig mit der Wehrmacht.
Noch mehr eröffnen die Akten: Nachfahren der Opfer des stalinistischen Terrors können das Schicksal ihrer Familie genau nachzeichnen. Irina Peters Vorfahren wurden 1936 von Stalin aus Wolhynien nach Kasachstan deportiert. Beim jüngsten Archivbesuch konnte sie die Einbürgerungsurkunde ihres Ururgroßvaters finden und weitere Lücken aus der früheren Zeit schließen: »In dem Archiv sind noch wahnsinnig viele Informationen über meine Familie zu finden. Vor allem in den Deportationslisten, wo die Namen meiner Familienmitglieder vermerkt sind. Es ist spannend, gerade in diesen politischen Archiven noch mehr über ihr Schicksal herauszufinden.« Mittlerweile hat Irina Peter umfangreiche digitale und ausgedruckte Ordner zu ihren Nachforschungen angelegt. Sie ist immerhin die Einzige in ihrer Großfamilie, die sich für deren Geschichte interessiert. Sie betont: »Ich sehe es als meine Aufgabe, diese Geschichte festzuhalten, weil sie sonst verloren geht.«
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