Riskanter Feldversuch

Mit Schulbeginn zieht vieles ein in deutsche Klassenzimmer - die erhoffte »Normalität« ist es nicht

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Bildungswesen soll endlich wieder »Normalität« einkehren. In vielen Bundesländern gehen die Sommerferien zu Ende oder die Schule hat, wie in Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg, bereits wieder begonnen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hatte sich schon im Juni auf das vollständige Öffnen aller Schulen und die Rückkehr zum »Regelbetrieb« verständigt. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Es fehlt an Personal und an Räumlichkeiten, um Lernen auf Distanz zu ermöglichen. Statt verbindlicher Coronatests zumindest für ältere oder vorerkrankte Lehrkräfte sind meist nur Stichproben geplant, Kinder und Jugendliche werden gar nicht erst routinemäßig untersucht. So startet, zumal sich das Virus wieder etwas stärker verbreitet und ein Impfstoff weiterhin fehlt, ein für alle Beteiligten riskantes Massenexperiment.

Die an anderen Arbeitsplätzen unverändert gültige Abstandsregel muss laut KMK an den Schulen nicht mehr eingehalten werden, »sofern es das Infektionsgeschehen zulässt«. Bei regionalen Ausbrüchen bleiben striktere Vorschriften oder auch erneute Schließungen allerdings möglich. Entgegen optimistischer Ankündigungen dürfte es auf eine Mischung aus digitalem Lernen im Homeschooling und Unterricht vor Ort hinauslaufen. Der versprochene Regelbetrieb sei auf absehbare Zeit illusorisch, prognostiziert eine Wissenschaftskommission aus verschiedenen Fachrichtungen in einem Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung.

Nach dem bildungspolitischen Notstandsprogramm der vergangenen Monate kann auch im neuen Schuljahr von »Normalität« keine Rede sein. Vor allem nicht für die Kinder aus benachteiligten Familien: Wo es an technischer Ausstattung und kompetenter Begleitung gemangelt habe, so berichten Lehrkräfte übereinstimmend, sind in der Hochphase der Pandemie erhebliche Wissensdefizite entstanden. Auch die von manchen Schulen angebotenen Ferienprogramme zum Nachholen des Unterrichtsstoffes haben diese Mängel nicht vollständig ausgleichen können.

Der Krankenstand unter den Pädagoginnen und Pädagogen ist unverändert hoch. Im Durchschnitt meldeten sich vor den Sommerferien je nach Bundesland zwischen zehn und zwanzig Prozent nicht arbeitsfähig. Mancherorts lag die Quote auch bei einem Drittel der Beschäftigten oder sogar noch darüber.

Zudem gab es schon vor der Coronakrise einen eklatanten Lehrkräftemangel besonders im Primarbereich, darauf hat die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in den letzten Jahren immer wieder hingewiesen. Den Personalengpass könnten ansatzweise Lehramtsstudierende mit längeren Praktika auffangen, entsprechende Konzepte hat zum Beispiel das Land Brandenburg entwickelt. Doch vielerorts fehlt der Schulbürokratie offenbar die Fantasie für innovative Ideen.

Auch die Kritik von Eltern- und Lehrkräfteverbänden am laxen Umgang mit den Abstandsregeln ist berechtigt. Andere Lösungen, etwa die zusätzliche Nutzung anderer öffentlicher Räume und vor allem das Lernen draußen unter freiem Himmel, werden noch zu wenig diskutiert und umgesetzt. Dänemark zum Beispiel hat schon zu Beginn der Krise Teile des Grundschulunterrichts auf Spielplätze, in Parks oder gar in ein Kopenhagener Fußballstadion verlegt. Dafür gibt es auch historische Vorbilder: Im Kampf gegen die Tuberkulose entwickelten zwei amerikanische Ärzte aus Rhode Island Anfang des 20. Jahrhunderts das Konzept des »Open-Air-Lernens«. Eine Schule in Provincetown, die bald quer durch die USA Nachahmer fand, ersetzte Ziegelwände durch Fenstertüren, die bis in die Wintermonate hinein offen standen. Andere Schulen hielten Unterricht auf Flachdächern ab, in New York wurde eine ausrangierte Fähre umfunktioniert.

Das Herausbrechen von Wänden ist sicher nicht überall praktikabel, und für die Anmietung weiterer Räume wie leer stehenden Büros oder Lagerhallen fehlt vielerorts das Geld. Die Interessenvertretungen fordern, neben der Einstellung von mehr Lehrkräften, vor allem regelmäßige Coronatests an den Schulen. Zwar dürfte, im deutschen Bildungsföderalismus von den Verantwortlichen mit unterschiedlicher Intensität verfolgt, die Maskenpflicht in den Schulgebäuden bald überall Standard sein. Doch noch dringlicher sind regelmäßige und obligatorische Abstriche auf das Virus - und zwar nicht nur für »Risikogruppen«. Langfristig führt an flächendeckenden und zeitlich engmaschigen medizinischen Überprüfungen kein Weg vorbei, um neue Schulschließungen zu vermeiden.

Als zentrale Erkenntnis eines durch die Pandemie forcierten bildungspolitischen Feldversuches zeichnet sich ab: Das digitale Unterrichten zu Hause ist nicht mehr als eine Krücke für Notzeiten. Sie mindert die Chancen gerade benachteiligter Kinder, die dringlich angewiesen sind auf persönliche Lernkontakte im öffentlichen Raum. Die schon deshalb wichtige Rückkehr zur analogen Schule benötigt deutlich mehr Platz und Personal als vorhanden ist.

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