Die Symbolik der Katze

Auch ohne den Begriff Rasse bleibt das Konzept in unserem Rechtssystem wirksam.

  • Laurence Meyer
  • Lesedauer: 7 Min.

Als eine Reaktion auf die weltweiten Demonstrationen gegen anti-Schwarzen Rassismus wurde in Deutschland erneut diskutiert, den Rasse-Begriff aus dem Grundgesetz zu streichen. Bereits 2018 wurde ein ähnlicher Versuch in Frankreich gestartet, mit vergleichbaren Argumenten: Rasse sei rassistisch, symbolisch problematisch und verbreite die falsche Idee weiter, dass biologische Rassen unter Menschen existieren. Keine Rolle spielte die Frage danach, ob die Streichung von »Rasse« einen besseren Rechtsschutz gegen eine spezifische Form der Ungleichbehandlung anbieten würde.

Die politischen Reaktionen auf Rassismus als strukturelles Problem verbleiben allzu oft auf einer symbolischen Ebene. Doch Rassismus ist nicht nur ein symbolisches Problem. Er existiert auch nicht aufgrund des Glaubens an eine biologische Realität menschlicher Rassen. Rassismus hat konkrete und materielle Konsequenzen - sowohl für die Personen, die davon systemisch negativ betroffen sind als auch für jene, die davon systemisch profitieren: Rassismus bestimmt, wie eine Person reisen darf, wo sie arbeiten oder wohnen darf, welchen Zugang sie zu gesundheitlichen Infrastrukturen besitzt; er bestimmt das Recht auf Leben.

Welcher Begriff bietet Rechtsschutz?

Deswegen sollte die Frage nach dem Rasse-Begriff in der Verfassung auch in einem materiellen Sinne gestellt werden: Welcher Rechtsbegriff kann den besten Schutz gegen systemischen Rassismus anbieten? Mit letzterem ist gemeint, dass Menschen, basierend auf äußerlichen phänotypischen Merkmalen wie Hautfarbe, Haarstruktur, Augenfarbe oder Nasenform etc., unterschiedlich behandelt werden. Und zwar nicht nur auf zwischenmenschlicher, sondern auch auf struktureller Ebene: In der Schule, auf dem Arbeitsmarkt, in Behörden, Krankenhäusern, im öffentlichen Raum.

Auch wenn man nicht an die biologische Realität von Rasse glaubt, Rasse als soziales Konstrukt wirksam. Es wurde geschaffen, um ein rassistisches Vorherrschaftssystem zu rechtfertigen und zu fördern und es schreibt (häufig) existierenden (meist) erblichen Merkmalen eine bestimmte Bedeutung zu. Die Idee entstand: Je mehr Melanin ein Mensch produzieren kann - was ihn vor der Sonneneinstrahlung schützt -, desto dümmer, gefährlicher und hässlicher ist er.

Rasse ist mehr als ein Wortlaut. Kategorien wie Gender, Klasse und Rasse strukturieren, wie wir Dinge wahrnehmen und wie wir die Welt organisieren. Der Begriff Rasse muss in einem Rechtssystem nicht explizit als solcher benannt werden, um wirksam zu sein. Man könnte sogar sagen, dass das soziale Konstrukt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eher in den Gesetzestexten eine rassistische Wirkung hat, in denen der Begriff gerade nicht enthalten ist. Das bedeutet: Wenn wir den Wortlaut aus dem Gesetzestext streichen, führt das nicht automatisch zu einem rassefreien Rechtssystem.

Das Konzept hat es historisch ermöglicht, Menschen in bestimmte Gruppen einzuteilen und sie dementsprechend anders zu behandeln. Das funktioniert heute auch, oder gerade, wenn wir die Kategorie nicht als solche benennen. Rasse wirkt immer da, wo Menschen, die historisch aufgrund äußerlicher Merkmale bestimmten Gruppen zugeordnet wurden, ungleichbehandelt werden.

Wo Rasse unsichtbar wirkt

Im Recht kann das Konzept Rasse zum einen direkt wirken, wenn ein Gesetz explizit vorsieht, eine bestimmte Gruppe anders zu behandeln: »Menschen mit blauen Augen dürfen keine Katze besitzen.« Es kann aber auch indirekt wirken, wenn ein Gesetz zwar neutral formuliert ist, aber eine bestimmte Gruppe unverhältnismäßig betrifft: »Nur Menschen mit unbefristeten Arbeitsverträgen dürfen Katzen besitzen«. In diesem Beispiel werden Menschen mit blauen Augen nicht erwähnt. Doch wenn diese historisch unterdrückt, ausgebeutet und als besonders schlechte Arbeiter stigmatisiert wurden, und in der Konsequenz gegenwärtig etwa 70 Prozent seltener einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten, dann ist diese Gruppe - auch wenn es ihnen nicht gesetzlich verboten wurde - de facto davon ausgeschlossen, eine Katze zu besitzen.

In solchen indirekten Fällen stellt sich nicht die Frage nach der Absicht, sondern die nach der Konsequenz: Unabhängig davon, ob Menschen mit blauen Augen in diesem fiktiven Beispiel durch das Gesetz gezielt benachteiligt werden - sie werden benachteiligt.

Anlasslose Polizeikontrollen

Nun gibt es sowohl in Frankreich als auch in Deutschland mehrere reale Situationen, bei denen Rasse zwar nicht erwähnt wird, aber dennoch wirksam ist. Ein offensichtliches ist die anlasslose Identitätsfeststellung. Gemeinhin dürfen diese Kontrollen nur im Falle eines Straftatverdachts stattfinden; oder in Grenzgebieten, an Flughäfen, in Zügen und an Bahnhöfen sowie auf Autobahnen. Doch 1992 wurde in Berlin - und später auch in anderen Bundesländern - eingeführt, dass Identitätskontrollen an sogenannten kriminalitätsbelasteten Orten auch ohne Straftatverdacht, also ohne konkreten Anlass, durchgeführt werden dürfen. Auch in Frankreich sind, gemäß den Anforderungen der Staatsanwaltschaft, seit 1993 anlasslose Identitätsfeststellungen möglich. In beiden Ländern sind die Orte, an denen solche Kontrollen durchgeführt werden dürfen, oft jene, an denen viele Menschen leben oder sich aufhalten, die als nicht-weiß wahrgenommen werden. Die Antidiskriminierungsstelle in Frankreich (Défenseur des Droits) hat 2016 in einer Untersuchung festgestellt, dass junge Männer, die von der Polizei als arabisch oder Schwarz eingeordnet werden, eine zwanzigmal höhere Wahrscheinlichkeit haben, kontrolliert zu werden als junge Männer, die als weiß eingeordnet werden.

Obwohl von mehreren NGO’s und zwischenstaatlichen Organisationen gefordert, gibt es in Deutschland keine vergleichbare Studie, zuletzt wurde dies offiziell von Innenminister Horst Seehofer (CSU) abgelehnt. Das Landesantidiskriminierungsgesetz in Berlin, das nur eine Beweiserleichterung vor dem Gericht vorsieht, wurde zu einer bundesweiten Debatte.

Doch bei aller Diskussion wird kaum je infrage gestellt, ob diese umstrittene Praxis überhaupt wirksam ist, um Kriminalität zu bekämpfen. Eine Untersuchung in zwei französischen Départements zeigte, dass lediglich vier Prozent der 2300 dort durchgeführten Kontrollen zu einer Festnahme führte. Wenn diese Kontrollen aber nicht ihrem vorgeblichen Zweck dienen - der Verbrechensbekämpfung -, führen sie nur dazu, dass rassifizierte Körper im öffentlichen Raum weiterhin als »gefährlich« gelten. Denn diese Kontrollen hinterlassen, so die Soziologin Vanessa Thompson, in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass die Polizei einen Grund für ihre Kontrolle habe und die Angehaltenen und Durchsuchten tatsächlich kriminell seien. Die polizeiliche Kontrolle nicht-weißer Körper hat ihren Ursprung im kolonialen Recht. In Frankreich wurde etwa die Polizei genutzt, um den Dreieckshandel mit Sklaven durchzusetzen und die Bewegung nicht-freier Schwarzer Menschen in Frankreich zu kontrollieren. Schwarze Sklaven durften die Grenze nach Frankreich nicht passieren und mussten in »Depots« auf ihre Besitzer*innen warten. Auch freie Schwarze mussten daher immer ein Dokument mitführen.

Das Verbot von Scheinehen

Ein zweites Beispiel, in dem Rasse wirkt, ohne benannt zu werden, ist die staatliche Kriminalisierung sogenannter Scheinehen. Die Gründe, aus denen zwei Personen eine Ehe eingehen können, sind in Frankreich wie in Deutschland staatlich reguliert. Wenn die Ehe zum Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis geschlossen wird, gibt es die Möglichkeit zur Strafverfolgung. Geht es um den Erhalt von Steuervorteilen hingegen nicht. Ersteres gilt als Scheinehe und kann in Deutschland und Frankreich mit mehreren Jahren Haft und Geldbußen bestraft werden.

Durchgesetzt werden können diese Strafen jedoch nur, wenn es sich um eine Ehe mit einer Person ohne EU-Staatsbürgerschaft handelt. Auch die strafrechtliche Regulierung von Ehe im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsstatus spiegelt koloniale Verhältnisse wider. In Deutschland wurden 1905 durch verschiedene Kolonialverordnungen Ehen zwischen »Weißen und Eingeborenen in allen deutschen Schutzgebieten« verboten. In Frankreich wurde 1724 der Code Noir von Louisiana (Schwarzer Kodex) eingeführt. Bis zur Unabhängigkeit der Kolonien wurden Ehen zwischen als »weiß« definierten Personen und den Anderen entweder verboten oder strikt reguliert.

Selbstverständliche Ungleichbehandlung

Das Verbot sogenannter Scheinehen und die anlasslosen Identitätskontrollen können als selbstverständliche Regeln zum Schutz der öffentlichen Ordnung erscheinen. Doch genau um eine solche Selbstverständlichkeit der Ungleichbehandlung zu erreichen, wurde Rasse als pseudowissenschaftlich gestütztes soziales Konstrukt erschaffen.

Nach Chemnitz, Halle, Hanau, dem NSU, Hunderten Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime - alles Fälle, bei denen staatliche Institutionen fehlerhaft agierten, wenn nicht schuldig waren - müssen Instrumente entwickelt werden, um institutionellen Rassismus in Deutschland präzise zu messen und aus den Ergebnissen konkrete Maßnahmen abzuleiten. Diese Messinstrumente bedürfen des Konzepts Rasse; genauso wie es der Konzepte Geschlecht oder Klasse bedarf, um Sexismus oder Kapitalismus zu untersuchen. Das Recht rassismuskritisch zu verstehen, heißt zuerst, die Wirkungen von Rasse als sozialem Konstrukt zu identifizieren und benennen. Gerade weil Rasse das Hauptprodukt von Rassismus ist, gibt es kein anderes Konzept, das es ermöglicht, Rassismus zu verstehen, zu analysieren und zu kritisieren.

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