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Ferienhaus, früher
Vor Viren ist man hier geschützt, aber nicht vor Frühlingsgefühlen. Und auch nicht vor Konflikten. Genau deshalb spielen die besten Urlaubsgeschichten im privaten Sommerdomizil
Bei den Buchungsportalen ist derzeit kaum etwas begehrter: Sonne vor dem Fenster, Salzgeruch in der Nase, Wellenschlagen im Ohr - aber in den eigenen vier Wänden. Im Pandemiesommer 2020 stechen Ferienhäuser alle anderen touristischen Unterkunftsangebote aus. Immerhin garantiert das private Interimsheim eine Einsamkeit und damit Virenfreiheit, die kein Hotel, keine Apartmentanlage und kein Campingplatz zu bieten hat.
Dabei schien sie zuletzt fast schon aus der Mode gekommen, die bescheidene Strandbaracke, in der einem keiner ein Frühstücksbüfett mit zwölf Sorten Marmelade aufbaut. Wo man schlimmstenfalls, wie in Astrid Lindgrens »Ferien auf Saltkrokan«, erst einmal aufräumen muss. Wer etwas auf sich hielt, bevorzugte bis vor Kurzem noch exklusive Fünf-Sterne-Tempel, angeschlossenen Golfplatz und Pool-Landschaften, die gefühlt größer sind als das Saarland.
In die moderne Literatur dagegen hat sich das Ferienhaus schon vor langer Zeit als Mythos eingeschrieben. Nicht nur, weil zahlreiche berühmte Schriftsteller die Sommerfrische in einem individuellen Anwesen verbrachten. Thomas Mann etwa ließ sich auf der Kurischen Nehrung eine stilvolle Urlaubsresidenz bauen, Bert Brecht besaß im brandenburgischen Buckow ein lyrisch verewigtes Refugium mit Seeblick, und Norman Mailer genoss die wärmste Jahreszeit auf Cape Cod, wo auch der Hauptsitz des Kennedy-Clans lag.
Lieber noch als an diese Dichterorte erinnert sich der Freizeitleser indes an fiktive Ferienhäuser. Ihnen verdanken einige der wunderbarsten Sommergeschichten des letzten Jahrhunderts ihren atmosphärischen Charme. So etwa jene hinter Pinien versteckte Villa, in der Françoise Sagan ihr jugendliches Meisterwerk »Bonjour tristesse« ansiedelte. Von den Klippen führt ein kleiner Pfad hinab in eine stille Bucht. Cécile, 17 Jahre jung, verbringt hier allein mit ihrem Vater den Sommer. Den interessieren weder der schulische Lerneifer noch der Alkoholkonsum noch das Liebesleben des verwöhnten Töchterchens. Gleich bei Erscheinen 1954 wurde das Buch zum Skandalerfolg, ebenso wie ein paar Jahre darauf die Verfilmung mit der niedlich-frechen Jean Seberg.
Archetypisch verkörpert Cécile die Jeunesse dorée der Pariser Nachkriegszeit, die sich sorglos am wiedererlangten Wohlstand freut. Das in die Natur gebaute Haus mit den kühlen Fliesen spiegelt dem Luxusgeschöpf die Illusion eines einfachen Lebens vor. Doch zwischen Bädern im Meer, heißen Nachmittagen und lauen Nächten hat sich die Melancholie eingeschlichen. Aus Langeweile liebt Cécile ihre Strandbekanntschaft, aus Langeweile wird sie zum Miststück. Cécile beschließt, die beiden Geliebten ihres Playboy-Papas gegeneinander auszuspielen. Die Intrige funktioniert, und die Coming-of-Age-Geschichte, die mit mediterraner Leichtigkeit begann, nimmt eine tragische Wendung.
Sagan ist nicht die einzige, die das Ferienhaus zur Kulisse des Erwachsenwerdens gemacht hat. »Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank.« Mit diesem lakonischen Nebeneinander von Schönheit und Schrecken eröffnet der US-Amerikaner Charles Simmons (1924-2017) seinen Kurzroman »Salzwasser«. Der 15-jährige Michael fährt mit seinen Eltern an die neuenglische Küste. Schon kurz nach der Ankunft zieht über dem in den Dünen liegenden Feriendomizil der Familie ein Sturm auf, der Sturm der Erotik. Die fünf Jahre ältere Sommerhausnachbarin Zina bringt Michaels Teenagerherz aus dem Takt. Dem verstellen die aufschießenden Hormone leider den Blick auf die Tatsache, dass Zina sich zu einem reiferen Mann hingezogen fühlt: seinem Vater. Als bei dem armen Michael dann doch die Jalousien hochgehen, ist der Badespaß zu Ende. Ein fataler Vater-Sohn-Konflikt bricht aus.
Frühlingsgefühle im August beschwört auch Alberto Moravias Adoleszenzklassiker »Agostino« von 1944. Trotz der Entstehungszeit sind Faschismus und Weltkrieg in dem Büchlein weit weg. Der 13-jährige Titelheld, dessen Name schon auf den italienischen Hauptferienmonat verweist, reist allein mit seiner verwitweten Mutter in ein Haus am Tyrrhenischen Meer. Während die noch jugendlich-schöne Frau am Strand von Verehrern umschwärmt wird, schließt sich der einsam umherstreifende Sohn einer Gruppe örtlicher Straßenjungen an. Aber die ziehen das Großbürgersöhnchen nur mit obszönen Anspielungen auf. Prahlen damit, wie sie Agostinos Mutter in der Umkleidekabine unter den Rock geschaut haben. Die eigene sexuelle Initiation erlebt Agostino im behüteten Dunkel des Ferienhauses. Hier lässt der Erotomane Moravia seinen Protagonisten selbst zum Voyeur werden. In einer langen Spannerszene verharrt Agostino-Ödipus beim Blick durch die halboffene Tür vor dem Körper der Mutter. Zum ersten Mal betrachtet er sie aus der Perspektive des Mannes, fasziniert von der Makellosigkeit des gebräunten Fleisches.
Im vielfigurigen Kosmos eines Hotels hätten familiäre Sommerdramen, wie Sagan, Moravia und Simmons sie konstruieren, kaum den passenden literarischen Echoraum gefunden. Die Ruhe unter dem isolierten Dach eines Ferienhäuschens hingegen erweist sich als wahres Gefühlsbiotop, als psychologischer Brutkasten, in dem wilde, wirre und böse Gedanken nur umso schneller heranreifen. Man könnte eine ganze Literaturgeschichte des Ferienhauses schreiben, einschließlich seiner Kompromissvariante für Durchschnittsverdiener, der Ferienwohnung. In einer solchen pflegt etwa das Ehepaar aus Martin Walsers Bodensee-Novelle vom »Fliehenden Pferd« allsommerlich seine Mittelklasse-Rituale.
Weit weg sind Meere und größere Binnengewässer demgegenüber in Judith Hermanns »Sommerhaus, später« (1998). Nur noch ein kleiner namenloser See wird erwähnt, und auch der spielt keine tragende Rolle. Denn die Titelerzählung des Sammelbandes, mit dem die Autorin über Nacht zur Literaturikone der Prenzlauer-Berg-Szene aufstieg, ist überhaupt keine Sommergeschichte mehr. Im Dezember erhält die Ich-Erzählerin einen Anruf. Der Mann heißt Stein. Vor einiger Zeit hatte sie eine kurze Affäre mit dem obdachlosen Taxifahrer, der öfter bei Frauen aus der gemeinsamen Clique schläft. Gerade hat Stein sich ein Landhaus gekauft, irgendwo im Berliner Umland. Er will es der Freundin von früher zeigen. Doch am Ende geht der hausgewordene Traum vom Sommerglück eines prekären Lebens in Flammen auf. Alle coronabedingt Daheimgebliebenen, die den Text heute lesen oder wiederlesen, werden ihre eigene Stimmung darin wiederfinden.
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