• Kultur
  • Kindheitserinnerungen

Die Hölle Hermann

Sobald ihn jemand erwähnt, rieche ich ihn, schmecke ihn, kotze ihn: Den Hermann-Teig

  • Pula Irmschler
  • Lesedauer: 3 Min.

Etwa einmal im Jahr schüttelt es mich. Jemand erwähnt ihn dann, oder ich werde durch etwas an ihn erinnert. Sofort rieche ich ihn, schmecke ihn, kotze ihn, verachte ihn. Es handelt sich um ein Thema, das ich lange nicht anfassen wollte. Zu groß die Angst vor dem Fluch, vor den Konsequenzen, der gesellschaftlichen Ächtung, ja, eventuell sogar dem Tod. Es handelt sich um den Unaussprechlichen. Den Hermann-Teig. »Heute gibt es mal wieder schön Hermann« ist der finsterste Satz vieler Kindheiten und Jugenden. Da wurde er mal wieder aufgetischt … Die zehn Tage, in denen der Teufelsbraten gären sollte, waren schon wieder rum. ZEHN TAGE FREIHEIT UND PURES GLÜCK. Doch dann war er zurück, wie der erste Schultag nach den Ferien oder der komische Auftritt des Vaters bei der Geburtstagsparty.

Liebende Eltern traf grundsätzlich keine Hermann-Schuld. Es war ja der Fluch, an den wir alle glaubten. Den wir nie hinterfragten. Die Pampe, die man wie einen Kettenbrief bei einem Parkpicknick von irgendeinem seltsamen Onkel zugesteckt bekam, den man über drei Ecken kannte, war die Religion vergangener Jahrzehnte. Und die bestand aus Pilzbakterienviren, Hefe und einer Geheimzutat, die - heute weiß man es - der Urin vom Vorbesitzer war. Man musste ihn immer wieder backen, den Hermann, immer wieder backen, immer wieder backen, immer wieder und etwas zurücklegen für das nächste Mal, wenn man ihn wieder backen musste und dann wieder. Backen. Immer schön backen, den Hermann. Back den Hermann! DER HERMANN IST REIF!! HOL IHN RAUS UND BACK DEN HERMANN!!! Wenn man es nicht pünktlich machte, kroch er aus dem Kühlschrank heraus und klopfte des Nachts an die Elterntür und kam ungeladen herein und schrie ihnen ins Ohr: »Es ist wieder so weit, du musst mich backen!« Dann buk man ihn, damit er seine verdammte Giftschnauze hielt.

Man arrangierte sich mit dem Elend, affirmierte teilweise sogar … Weil es nicht anders ging. Ihn zu ignorieren oder gar nicht erst anzunehmen, war verboten. Man versuchte mit ihm zu leben, versuchte ihn zu »verfeinern«, ihn »aufzupeppen«, vielleicht mal mit Schokoüberzug, das schmeckt bestimmt … Ja, das schmeckte, also der Überzug, und der Rest wanderte in den verdammten Müll. Leider hatte man daraufhin sieben Jahre Pech! Wegwerfen war nämlich auch verboten. Wahnsinn, dass jungen Leuten Energydrinks, Zigaretten und Alkopops verboten wurden, der Hermann aber zulässig gewesen sein soll. Was mich angeht: Ich bin abgehauen. Ich habe meine Familie verlassen, die vielleicht noch bis heute am Hermann-Backen ist. Mit anderen Hermann-Aussteigerinnen lebe ich an einem geheimen Ort unter neuem Namen. Und von hier aus kann ich es ja sagen: Verschimmel, Hermann-Teig, stirb, stirb, stirb!

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.