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Kein Maidan
Denis Trubetskoy über die Proteste in Belarus
»In Belarus wird es keinen Maidan geben«, hatte Präsident Alexander Lukaschenko vor den Wahlen am 9. August stets betont. Für die eher zurückhaltenden, apolitischen Belarussen sollte vor allem der Bezug auf das politische Chaos, das seit 2014 in der Ukraine herrscht, abstoßend wirken. Dennoch wird seit Sonntag landesweit protestiert. Und zwar mit einem derart hohen Niveau der Selbstorganisation, dass man sich an die Ukraine erinnert fühlt.
Dennoch hat Lukaschenko an dem Punkt recht. Denn der so naheliegende Vergleich ist sowohl in der Form als auch im Kern falsch. Die Maidan-Revolution hatte nicht nur mit dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz einen zentralen Ort. Auch verfügte die damalige Opposition mit Vitali Klitschko und Arsenij Jazenjuk über politische Repräsentanten. Die waren zwar unter den Demonstranten nicht besonders beliebt, aber immer noch akzeptiert. In Belarus läuft der Protest quasi von selbst. Kanäle im Messengerdienst Telegram haben mehr Einfluss darauf als Marija Kolesnikowa, die einzige vor Ort verbliebene Anführerin des vereinten Wahlstabes um Lukaschenkos Herausforderin Swetlana Tichanowskaja.
Der wesentliche Unterschied ist jedoch, dass die Kiewer Taktik in Minsk nicht anwendbar wäre. In der Ukraine konnte sich der kleine, aber militärisch gut vorbereitete rechtsradikale Teil der Protestierenden auf Augenhöhe mit den schwachen Sicherheitsbehörden behaupten. In Belarus gibt es weder einen rechten Sektor noch eine schwache Polizei. Die sehr vereinzelten Versuche am Montag, Molotowcocktails zu werfen, wurden schnell wieder aufgegeben. Stattdessen setzt man auf kleinere, friedliche Demonstrationen, die an sehr vielen Orten gleichzeitig stattfinden, um die Polizei zu erschöpfen. Und auch auf die von Frauen angeführten Ketten der Solidarität, die kaum angreifbar sind. Das zeigt auf eine ganz andere Art als in Kiew, dass weder die Sondereinsatztruppen der Polizei noch das berüchtigte belarussische Überwachungssystem allmächtig sind.
Dennoch muss der Schlüssel für den Sieg gegen Lukaschenko nicht auf der Straße liegen. Seit Donnerstag wird in immer mehr größeren Betrieben des Landes, die fast alle in staatlicher Hand sind und deren wichtigster Abnehmer Russland ist, protestiert oder gestreikt. Am Freitag gewann diese Entwicklung erneut an Dynamik. Die Arbeiter fordern von Lukaschenko Neuwahlen.
Wegen des Ölstreits mit Russland erlebt Belarus ohnehin eine Wirtschaftskrise, die durch Corona verstärkt wird. Eine Abkehr von Russland ist für das Land unmöglich. Doch die Wirtschaftstechnokraten setzen sich hinter den Kulissen schon länger für Reformen ein, etwa für Teilprivatisierungen, damit die Wirtschaft belebt wird. Sollte sich die Entwicklung fortsetzen, bekäme Lukaschenko ein noch größeres Problem, das sicher nichts mit einem zweiten Maidan zu tun hätte.
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