Plastikvisiere aus dem 3D-Drucker

In der Demokratischen Republik Kongo wird mit Überzeugungsarbeit und unkonventionellen Ansätzen der Covid-19-Pandemie begegnet

  • Judith Raupp, Goma
  • Lesedauer: 8 Min.

Espoir Ngalukiye brüllt in sein Megafon so laut er kann: »Schützt euch vor dem Coronavirus. Tragt Masken«. Aber alles Schreien nützt nichts. Niemand will auf den Aktivisten im Geschäftsviertel der kongolesischen Millionenstadt Goma hören. Frauen laufen vorbei. Sie tragen Ananas und Zwiebeln in Plastikwannen auf dem Kopf. Andere verkaufen Gummisandalen. Geländewagen der Vereinten Nationen und Motorradtaxen rasen in Richtung Flughafen. Männer laden Matratzen und Kanister mit Palmöl von Lastwagen ab. Sie schleppen die Ware auf dem Rücken in kleine Läden ohne Fenster. Kaum jemand trägt einen Nase-Mund-Schutz. An Abstandhalten ist nicht zu denken.

Seit Politiker, Geschäftsleute und Entwicklungshelfer im März das Corona-Virus in die Demokratische Republik Kongo gebracht haben, zieht Ngalukiye jeden Samstag mit Freunden los, um die Leute aufzuklären, wie sie sich gegen die Krankheit Covid-19 schützen können. Mit von der Partie ist an diesem Morgen Rebecca Kabugho. »Corona hätten wir nicht auch noch gebraucht, jetzt, da endlich die Ebola-Epidemie nach zwei Jahren zu Ende geht«, stöhnt die 25 Jahre alte Psychologin. »Aber irgendwie muss es weiter gehen.«

Kabugho und Ngalukiye haben die Initiative »Goma Actif« ins Leben gerufen, als die ersten Patienten in ihrer Stadt an Covid-19 erkrankten. Sie verteilen mit einem Dutzend Mitstreiter Masken an die Chauffeure der Motorradtaxen, bringen alten Menschen Mehl, Öl und Seife nach Hause, damit sich die Senioren nicht selbst ins Getümmel auf dem Markt stürzen müssen. Masken und Lebensmittel kaufen die Aktivisten mit Spenden von Künstlern, Unternehmern, Pfarrern, Studierenden und all jener, die irgendetwas zum Kampf gegen Corona beitragen wollen, auch wenn sie selbst nicht viel haben. »Der Staat tut nichts, also müssen wir uns selbst helfen«, glaubt Kabugho.

Um die Bevölkerung im Kongo hat sich in der jüngeren Geschichte tatsächlich kaum jemand ernsthaft gekümmert. Die ehemaligen belgischen Kolonialherren haben das Land brutal ausgebeutet. Fast alle Machthaber, die seit der Unabhängigkeit 1960 regieren, tun es ihnen gleich. Im Osten des Landes morden und plündern Milizen, ohne dass jemand sie aufhalten würde. Die meisten Kongolesen sind arm, obwohl ihre Heimat sämtliche Bodenschätze besitzt, nach denen die Welt giert.

Inzwischen umzingeln Motorradtaxifahrer Kabugho und Ngalukiye. Sie sind wütend. Der Gouverneur hat ihnen verboten, in der Nacht zu fahren, angeblich, um das Volk vor Corona zu schützen. Das vermasselt den Chauffeuren das ohnehin schon schwierige Geschäft. Und nun kommen ein paar junge Leute daher und wollen sie belehren. »Zeige mir doch mal das Virus. Wo soll es denn sein«, brüllt einer. »Ihr werdet von den Weißen bezahlt und sackt einen Haufen Geld ein. Gib gefälligst etwas ab«, schreit ein anderer und reckt drohend die Faust in die Luft. Kabugho und Ngalukiye reden freundlich weiter. Sie kennen das. Hungrige, frustrierte Menschen können aggressiv werden, besonders, wenn sie mit Krieg, Korruption und Willkür aufwachsen.

Seit die Pandemie über das Land gekommen ist, haben viele Kongolesen den Job verloren. Déborah Mubalama musste die Privatschule auf Befehl der Regierung schließen, die sie mit ihrem Mann betreibt. Seit fünf Monaten verdienen beide keinen Cent mehr. »Das war völlig übertrieben. Wir hätten uns schützen und den Unterricht weiter führen können«, findet Mubalama. Auch wenn die Schulen jetzt wieder öffnen, wird sie weiter darben. Denn die meisten Eltern können das Schulgeld nicht mehr bezahlen. Mubalama lächelt trotzdem, als sie in ihrem Wohnzimmer mit den kargen Betonwänden empfängt. Das jüngste der sechs Kinder weint. Sie streichelt das Baby und gibt ihm die Brust.

»Alle satt zu bekommen, ist schwierig«, gesteht Mubalama. Manchmal stecken die Schwester oder der Schwager ihr ein wenig Geld zu. Familien müssen zusammenstehen. Mubalama weiß, dass sie vom Staat weder Arbeitslosenhilfe, Kurzarbeitergeld oder irgendeine andere Unterstützung erwarten kann. Sie wüsste gerne, wo die 47 Millionen Dollar geblieben sind, die der Kongo von der Weltbank bekommen hat, um die Coronakrise zu lindern.

Die geduldige, freundliche Frau lässt sich aber nicht klein kriegen. Sie holt einen Korb mit Ingwer, Baumtomaten und Orangen aus der Küche. Die Früchte hat sie noch vom Vortag übrig. Statt eine Schule zu leiten, verkauft Mubalama nun Obst. Auf diese Idee sind inzwischen viele andere gekommen, sodass ein Sack mit 50 Kilo Orangen beim Großhändler nun bis zu 60 000 kongolesische Francs (26 Euro) kostet. Früher waren es 25 000 Francs. »Meine Kunden wollen aber nicht mehr bezahlen«, klagt Mubalama. Sie versteht das. Es geht nun mal allen schlecht. Aber aufgeben gilt nicht.

So denkt auch Olivier Baraka, Dekan an der Technologiefakultät der Freien Universität der Länder der Großen Seen in Goma. Obwohl auch er keinen Lohn bekommt, weil die Universität wegen Corona monatelang geschlossen war, will er nicht tatenlos zu Hause sitzen. Er hat seinen 3D-Drucker ins Universitätslabor gebracht, mit Hilfe der Freien Universität Brüssel und eines kongolesischen Professors in den USA weitere Drucker gekauft, ein Team von Studierenden zusammen getrommelt und losgelegt. »Wir haben schon 6000 Plastikvisiere hergestellt«, verkündet Baraka.

Der promovierte Ingenieur hat mitbekommen, wie sich die Europäer zu Beginn der Pandemie um die wenigen Schutzmasken gestritten haben. Es war ihm sofort klar, dass sein Heimatland wohl nicht besonders zuvorkommend beliefert würde. Deshalb hat sein Team flugs aus Hartplastik und Folien für Schnellhefter Schutzvisiere hergestellt, die das ganze Gesicht bedecken.

Baraka unterrichtet nun selbst mit so einem Schutzschild, ebenso wie alle seine Kollegen an der Universität. Auch an andere Hochschulen und Schulen, an Hilfsorganisationen und Krankenhäuser verschenken Baraka und sein Team die Schutzvisiere. Klar, es juckt ihn ein bisschen, die Schilde zu verschenken, statt zu verkaufen. Ein wenig Geld zum Leben wäre in der Not ganz gut. Aber würde er Abnehmer finden, wenn jemand dafür bezahlen müsste? Außerdem wollen die Spender, die Drucker und Material finanzieren, dass die Universität die Visiere gratis vergibt. Was bleibt, ist der Stolz auf das Team und die Masken. Der macht zwar nicht satt, aber irgendwie glücklich.

Richtig gute Laune hat Déborah Okito. Sie schiebt ihr Rennrad auf den Grasstreifen neben der geteerten Straße und strahlt übers ganze Gesicht. Endlich kann sie wieder mit dem Goma Cycling Club trainieren, strampeln, leben. Als jeglicher Sport im Freien untersagt war, hat sie den ganzen Tag nur Fernsehen geschaut. »Ich habe mich krank gefühlt«, erzählt die 20 Jährige. Sie würde gerne studieren. Aber ihre Mutter kann die Gebühren nicht aufbringen. Der Vater ist verschwunden. So bleibt ihr nur der Sport.

»Steig auf, wir drehen noch eine Runde«, ermuntert ihr Teamkollege die junge Frau. Okito trainiert mit den Männern, weil es keinen Radclub für Frauen gibt. Gerne würde sie sich mit anderen Radlerinnen messen. Aber im Moment fallen alle Wettbewerbe aus, und damit auch die Aussicht auf ein Preisgeld von 100 bis 200 Dollar.

»Ich muss mein Rad schonen«, antwortet sie ihrem Kollegen. Okito kann sich im Moment nicht eine einzige Ersatzschraube leisten. Ihre Mutter muss alles Geld für Mehl, Seife und Öl ausgeben. Die Preise haben sich verdoppelt, seit die Grenzen geschlossen sind, und weniger Minibusse mit Obst, Gemüse und Getreide aus dem Umland nach Goma fahren. Nicht auszudenken, wenn ausgerechnet jetzt das Rad kaputt ginge. »Das wäre eine Katastrophe«, schreit Okito. Dann betet sie mit den anderen zum Abschluss des Trainings. »Danke lieber Gott, dass ich heute Rad fahren durfte«, murmelt sie.

Der Glaube hält viele Menschen im Kongo am Leben. Sie waren ziemlich sauer, als der Präsident die Kirchen wegen Corona monatelang schließen ließ. »Die Leute haben heimlich bei den Pfarrern zu Hause Gottesdienste gehalten«, verrät Gisèle Bagheni. Die Journalistin veranstaltet für eine Hilfsorganisation Podiumsdiskussionen über Corona und produziert Aufklärungssendungen. Die Pandemie hat ihr einen gut bezahlten Job beschert. Sie schimpft zwar auch über die teuren Lebensmittelpreise und die Wirtschaftskrise. Aber anders als viele andere kann sie sich satt essen.

Angst hat Bagheni trotzdem. Sie fürchtet, das Virus könne sie befallen, wenn sie während der Diskussionsveranstaltungen mitten unter den Leuten steht. »Und wenn ich dann meine alte Mutter anstecke?«, fragt sie besorgt. Bagheni hält die offizielle Zahl laut Johns Hopkins University von 9676 Corona-Infizierten und 240 Toten mit Stand 17. August für viel zu niedrig. Eine verlässliche Statistik existiert nicht, weil die wenigen, schlecht ausgerüsteten Labors insgesamt nicht einmal 500 Tests am Tag schaffen - für 80 Millionen Einwohner.

Aktivistin Rebecca Kabugho fordert, dass die Regierung sich mehr anstrengen solle, das wahre Ausmaß von Corona im Kongo zu klären. Wüssten die Menschen Bescheid, würden sie wohl eher auf sie und ihren Mitstreiter Ngalukiye hören, wenn sie raten, Masken zu tragen, Hände zu waschen und Abstand zu halten. Die Motorradchauffeure im Geschäftsviertel bleiben stur an diesem Morgen. Sie schimpfen, wollen nichts von Corona hören. Aber egal, nächstes Wochenende werden Kabugho und Ngalukiye wieder mit ihrem Megafon losziehen. »Wenn wir nur einen Einzigen überzeugen, haben wir gewonnen«, sagt Kabugho.

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