Von der Verdrängung
Die neue Ausgabe der »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung« versucht eine »Sozialismus-Bilanz« der DDR, besonders der Jahre 1989/90
Die neue »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung« verhandelt nicht nur ökonomische Aspekte der Corona-Krise und das heutige Verhältnis Jugend und Politik, sondern hat auch den Schwerpunkt »DDR 1989/90 - Sozialismus-Bilanz«, mit dem sich hier beschäftigt werden soll.
Jörg Roesler (Berlin) schreibt über das brisante Thema »Reparationszahlungen 1945 bis 1989 und der Systemwettbewerb DDR-BRD«. Für Roesler waren die Reparationszahlungen die Hauptursache für das Zurückbleiben Ostdeutschlands bzw. der DDR bei Produktion und Verbrauch gegenüber der Bundesrepublik. Sie beeinflussten den ökonomischen Wettbewerb zwischen beiden deutschen Staaten auch in den folgenden viereinhalb Jahrzehnten, als die Planwirtschaft der DDR ungeachtet beträchtlicher Anstrengungen nicht in der Lage war, den einmal eingetretenen großen Rückstand zu tilgen.
Die in der Bundesrepublik vorherrschende Geschichtsschreibung rechnet die von der DDR nicht erreichten Ergebnisse überwiegend den unterschiedlichen Wirtschaftssystemen zu. Dem widerspricht Roesler ganz entschieden. Einen empirischen Nachweis für die Überlegenheit des marktwirtschaftlichen gegenüber dem planwirtschaftlichen System vor allem anhand der Wirtschaftsdaten zu demonstrieren, wie das in zeitgenössischen Publikationen bis heute gang und gäbe ist, erlaube keinen seriösen Vergleich, denn hierfür müsse man unbedingt Umfang, Struktur und Verteilung der Reparationen berücksichtigen, die Deutschland zu zahlen hatte.
Ausgehend von historischen Versuchen, Alternativen zum kapitalistischen Eigentum zu schaffen (zum Beispiel die us-amerikanische Mustersiedlung »New Harmony«, die der Frühsozialist Robert Owen 1824 in Indiana gründete), diskutiert Jürgen Leibiger (Radebeul) in »Das Eigentum im Sozialismus des 20. Jahrhunderts«. Er betrachtete das in der Folge der russischen Oktoberrevolution entstandene sozialistische Weltsystem, das in den 80er Jahren 26 Staaten umfasste, in denen ein Drittel der Weltbevölkerung lebte und das etwa ein Drittel des globalen Bruttoinlandsprodukts erbrachte. Dieses Lager bestand im Kern aus Ländern, die dem Druck und dem Einfluss der Sowjetunion unmittelbar ausgesetzt waren. In Jugoslawien, das sich dem Einfluss der UdSSR entzogen hatte, etablierte sich dagegen ein anderes Sozialismusmodell, das auf der Selbstverwaltung der Betriebsbelegschaften beruhte. Einen Sonderweg beschritt auch die Volksrepublik China.
Für die ausführliche Analyse der neuen Eigentumsverhältnisse, des Wirtschaftsmechanismus und des Systems der Planung und Leitung der Wirtschaft wählt Leibiger die DDR als Beispiel, weil dieser Staat auf dem Boden eines der höchstentwickelten Länder mit einer starken Arbeiterklasse und einer langen sozialistischen Tradition entstanden war. Er kommt zu dem Ergebnis, dass bei den Volkseigenen Betrieben »nicht von Volks- oder Gemeindeeigentum« gesprochen werden könne. Ein Verweis auf die Analysen von Fritz Behrens, der schon in den 70er Jahren zu dieser Bewertung gekommen war, wäre an dieser Stelle wünschenswert gewesen.
Stefan Bollinger (Berlin) befasst sich mit der finalen Krise der DDR 1989/90. Eingangs verweist er auf den früheren Bürgerrechtler Klaus Wolfram, der 2019 in einer Rede über »die politische Energie der Ostdeutschen« deren pauschale Denunziation als demokratiefeindlich angesichts der AfD-Erfolge entschieden zurückgewiesen hat. Er hielt diese Rede anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Mauerfalls in der Berliner Akademie der Künste (vgl. »nd« vom 27.6.). Wolfram ging davon aus, dass die Bürger der DDR 1989 landauf, landab in Selbstbestimmung handelten und machte sich mit dieser Positionierung bei den Westintellektuellen keine Freunde.
Für Bollinger fiel die Entscheidung über die Zukunft der DDR zwischen dem 4. und 9. November 1989. Es gab zwei Optionen: Die eine war, im Geist der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz, an der mehr als 500 000 Menschen teilnahmen für eine souveräne DDR unter demokratischen Vorzeichen, für einen erneuerten Sozialismus einzutreten. Oder aber dem Konkurrenzsystem BRD den Zugriff auf die DDR zu ermöglichen, was dann den in Gang befindlichen revolutionären Prozess in einen scheinheilig als »Wiedervereinigung« apostrophierten Anschluss umfälschte. Das war auch ein Ergebnis des Mauerfalls, als die durchaus reformwillige, aber unfähige halbneue SED-Führungsmannschaft die Mauer öffnete, um die Straßen leer und die Köpfe frei von zu vielen Reformwünschen zu bekommen.
Helmut Kohls berühmtes Versprechen der »blühenden Landschaften« wirkte nach Bollinger bis zu den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen am 2. Dezember 1990. Erst die Einheitskrise im Folgejahr habe zur Ernüchterung geführt. Verlorene Arbeitsplätze und plattgemachte Betriebe desillusionierten und wirkten als Erfahrung bis heute nach. Die Warnungen der PDS, von Bürgerrechtlern, aber auch von einsichtigen SPD-Politikern, verhallten weitgehend.
Den Reigen der Beiträge zu diesem Heftschwerpunkt beschließt Yana Milev (St. Gallen) mit ihren aufschlussreichen Ausführungen über die neoliberale Geschichtsklitterung in Fragen der »Diktaturaufarbeitung« und »Demokratieerziehung« in der Bundesrepublik. Für sie ist das ein »Doppelaxiom der demokratischen Assimilationspolitik im Beitrittsgebiet«, das den alten westdeutschen Eliten der Wirtschaft, des Rechts, des Militärs und der Politik Rechnung trage. Für diese sei die Geschichte Ostdeutschlands, auch gefasst als Werte- und Mentalitätsgemeinschaft, eher ein Schandfleck, den es zu tilgen gelte.
In einer solchen verkürzten Sichtweise werde das Engagement der Mehrheit der DDR-Bevölkerung 1989/90, auch der Werktätigen und nicht nur der Opposition, für eine demokratische Staatsreform und für eine Emanzipation vom sowjetischen Modell ausgeblendet und ignoriert. Denn dazu würde vor allem eine Akzeptanz der »anderen« Werte und Mentalitäten gehören und nicht ihre Verdrängung.
»Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung«, Nr. 123, September 2020. 248 S., 10 €;
zu bestellen bei: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Postfach 700346, 60553 Frankfurt am Main, Telefon/Fax 069/53054406, Mail:redaktion@zme-net.de.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.