Von schwul zu queer

Das Schwule Museum in Berlin hat sein Archiv nach fünf Gefühlen neu geordnet. 100 ausgewählte Objekte sind zu sehen

  • Corinna von Bodisco
  • Lesedauer: 5 Min.

Rosa, gelb, blau, grün, weiß. Es sind nicht nur bunte Streifen, die in den Ausstellungsräumen des Schwulen Museums auf dem Boden kleben. Es ist ein völlig neues Prinzip, das Archiv dieses Museums zu organisieren: nach Gefühlen. Rosa steht für Begehren, Gelb für Angst, Blau für Freude, Grün für Fürsorge und Weiß für Wut. Über die fünf Pfade wird den 100 Objekten jeweils ein Gefühl zugeordnet. Die Besucher*innen werden eingeladen, sich affektiv zu nähern.

Aus der Vernissage der Ausstellung »100 Objekte - An Archive of Feelings« wurde eine Midissage: Wo sonst etwa 200 Menschen zusammenkommen, haben sich dieses Mal höchstens 35 geladene Gäste auf der Terrasse des Museums eingefunden. Es ist die erste Veranstaltung dort nach der vom Senat verordneten Schließung der Museen. »Auf dem Schild vor dem Eingang steht immer noch der 23. März als Eröffnungsdatum, doch das hat nicht geklappt«, sagt Archiv- und Sammlungsleiter Peter Rehberg. Aber die Ausstellungsdauer wurde bis Ende Oktober verlängert.

Auf Sockeln, in Vitrinen oder an den Wänden werden Travestiekostüme, Fotografien, Skulpturen oder historische Dokumente der Geschichte und Kunst von LGBTIQ* präsentiert. Es sind ausgewählte Einzelstücke aus dem 35 Jahre alten Museumsarchiv - alte wie neue. »Der Ausgangspunkt war die Möglichkeit, die Sammlung neu zu denken«, erklärt der promovierte Historiker Ben Miller, der gemeinsam mit Rehberg die Ausstellung kuratierte.

Das neue Denken wird in der Ankündigung wie folgt beschrieben: »Wie können wir das, was traditionell eine sehr schwule Sammlung ist, queeren?« Die Frage ist bewusst offen formuliert, lässt Raum für Zufälliges, Experimentelles. Seit Rehberg 2018 die Nachfolge von Museumsgründer und Kurator Wolfgang Theis antrat, spielt die thematische Entwicklung von schwul zu queer eine Rolle - aber nicht nur. Das Museum öffnet sich für die Geschichten und die Kultur von Frauen, Personen mit Trans-Erfahrung und von anderen minorisierten Menschen in der queeren Community. Es geht um einen neuen Blick.

Dieser neue Blick auf die eigene Sammlung gilt zunächst den Einzelobjekten selbst: In den schwarzen Räumen wirken sie im Scheinwerferlicht wie Juwelen. Was empfinden die Besucher*innen beim Betrachten? Eine affektive Erfahrung geht laut Rehberg über vertraute Kategorien der Wissensspeicherung hinaus. Diese erste unvermittelte Erfahrung wird auch dadurch begünstigt, dass erklärende Texte an den Wänden via QR-Code ins Digitale verlagert wurden.

»In queerer Kultur geht es nicht nur um Sexualität, sondern auch um Gefühle«, findet Rehberg. Ausgehend von der Idee des Psychologen Silvan Tomkins, menschliches Verhalten in neun Grundaffekte zu fassen, sei das Ausstellungsprinzip - die fünf Affekte von »100 Objekten« - entstanden. Gibt es ein Gefühl für queeres Leben?

Mit blutunterlaufenen Augen und einer roten Clownsnase schaut das Selbstporträt von Jürgen Baldiga den Betrachter*innen entgegen. Angst? Die Fotografie wurde 1991 aufgenommen, zwei Jahre später stirbt Baldiga. Nach seiner HIV-Diagnose dokumentierte er seinen versehrten Körper und das Leben seiner Freunde in der Schwulenszene West-Berlins. »Jürgen hat noch nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die er verdient«, sagt Rehberg in der Führung. Das Museum wolle deswegen für mehr Sichtbarkeit sorgen und plane ein Projekt, um die Werke des Künstlers zu digitalisieren.

Über die Kopplung Objekte - Affekte entstehen zwischen den 100 Ausstellungsstücken neue Verbindungen. Was hat zum Beispiel das Objekt »Lesbischer Strickpulli« von Ulrike Lachmann mit dem Holzblockdruck »Freundschaftsfoto« von Jürgen Wittdorf zu tun? Beide sind dem Affekt Fürsorge zugeordnet. Es könnte das im Pulli eingestrickte rosa Dreieck sein, ein Symbol, dessen Ursprung in der Verfolgung von schwulen Männern in der Zeit des Nazi-Regimes liegt. Doch die Antwort liegt letztlich im Empfinden der Betrachter*innen.

Ein rosa Klebestreifen für den Neon-Schriftzug »Pelze« der Künstlerin Lena Rosa Händle: Begehren. Ihr Kunstwerk ist eine Hommage an das »PELZE-multimedia«, einen von 1981 bis 1996 besetzten Frauen*Lesben-Raum in einem ehemaligen Pelzgeschäft in der Potsdamer Straße 139 in Berlin. »Den Schriftzug habe ich intuitiv gezeichnet«, sagt Händle, die wie zahlreiche andere Künstler*innen zur Midissage von »100 Objekte« gekommen ist. Den Original-Schriftzug soll es wohl noch geben, doch ihr sei es vor allem um einen spielerischen Umgang, die Wiederentdeckung des Ortes lesbischer Geschichte und dessen Übersetzung in ein neues Objekt gegangen. Das Aluminiumgitter des »PELZE-multimedia« und die Ketten bilden dabei einen kühlen Kontrast zum Pelze-Begriff.

Wo kommen eigentlich die Materialien hin, die für das Archiv im Museum abgegeben werden? Antwort: in eine Mixkiste. »Solche Kisten habe ich oft geordnet«, sagt der Ehrenamtler Michael Waentig, der sich im Museumskontext so nennt. Der 78-Jährige steht vor Objekt 82, einer Kiste mit unsortierten Materialien. Das Ordnen der Kisten findet er spannend, »man lernt das ganze Archiv kennen«. Ob Archiv, Bar, Bibliothek oder Museumsdienst - »ohne Ehrenamt funktioniert das Museum nicht«, weiß Waentig.

Ohne Gäste und Events gehe es auch nicht, »die Sorglosigkeit vor Corona kann man sich jetzt nicht mehr vorstellen«, sagt Museumssprecher Daniel Sander. Der Besucherrückgang durch Corona sei immens gewesen: etwa 70 Prozent der Tourist*innen blieben aus, Eintrittsgelder fehlten. Immerhin - die Miete sei klar, das Museum wird vom Senat gefördert. Zur späteren Eröffnung, also der Midissage, konnte sich die Community wieder persönlich gegenüberstehen, feiern und - wenn auch mit Abstand - den neuen Blick auf das Archiv diskutieren.

»100 Objekte - An Archive of Feelings«, bis 26. Oktober, Schwules Museum, Lützowstraße 73, Berlin.

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