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Stalins gefürchteter Feind
Vor 80 Jahren wurde Leo Trotzki in Mexiko ermordet
In George Orwells Roman »1984«, erschienen 1949, fungiert die mythische Propagandafigur des Volksfeindes Immanuel Goldstein als »der Renegat, der große Abtrünnige, der früher einmal, vor langer Zeit, einer der führenden Männer der Partei gewesen war und fast auf einer Stufe mit dem Großen Bruder selbst gestanden hatte, um dann mit konterrevolutionären Machenschaften zu beginnen, zum Tode verurteilt zu werden und auf geheimnisvolle Weise zu verschwinden.«
Natürlich stand hier Leo Trotzki Orwells literarischer Figur Pate. Er starb am 21. August vor 80 Jahren in Coyoacán in Mexiko an den Folgen eines Attentats.
Leo Trotzki wurde als Lew Bronstein am 7. November 1879 als Sohn eines jüdischen Gutspächters in Janowka in der Südukraine geboren. Seit 1897 war er in der revolutionären Bewegung tätig, was seine Exmatrikulation vom Mathematischen Institut der Universität Odessa zur Konsequenz hatte. Nach der Haft in Odessa und sibirischer Verbannung ging er ins Exil nach Frankreich und Deutschland.
Politisch stand er zwischen den Bolschewiki, deren Vorstellungen einer hierarchischen und zentralisierten Partei er scharf angriff, und den Menschewiki, denen er mangelnden revolutionären Geist bescheinigte. In der Revolution von 1905 kehrte er im Februar nach Russland zurück und leitete bis zur erneuten Verhaftung im Dezember den Petersburger Sowjet. Es gelang ihm, aus der Haft ins Ausland zu fliehen. Seine erfolgreiche publizistische Tätigkeit in Wien machte ihn international bekannt. Trotzkis Buch über diese russische Revolution wies ihn als brillanten Schriftsteller aus.
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges emigrierte Trotzki mit seiner Familie von Wien in die Schweiz, wo er als Autor des Zimmerwalder Manifestes einer der führenden Köpfe der radikal-sozialistischen Kriegsgegner wurde und Lenin politisch näherkam. Nach dem Sturz des Zarismus zog es ihn wieder nach Russland. Über Frankreich, Spanien und die USA gelangte er im Mai 1917 nach Petrograd. Dort trat er der bolschewistischen Partei bei und leitete den Oktoberaufstand.
Als erster Volkskommissar für äußere Angelegenheiten konnte er in den Verhandlungen von Brest-Litowsk die für Sowjetrussland ungünstigen Friedensbedingungen trotz seiner Verschleppungstaktik nicht verhindern. Daraufhin Volkskommissar für Verteidigung geworden, wurde Trotzki zum Organisator der Roten Armee und zum Strategen ihres Sieges im Bürgerkrieg.
Doch in den Machtkämpfen nach Lenins Tod 1924 waren er und die politisch uneinheitliche linke Opposition Stalin und dessen Apparat in Staat wie Partei in keiner Weise gewachsen. Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, wonach Russland zum Aufbau des Sozialismus die Unterstützung der westlichen Arbeiterklasse benötige, fand weniger Anklang in der Partei und der Bevölkerung als Stalins These, es sei möglich, den Sozialismus in einem Land, nämlich Sowjetrussland, aufzubauen, ohne die Hilfe des westeuropäischen Proletariats in Anspruch nehmen zu müssen.
Der revolutionäre Intellektuelle Trotzki wurde von dem äußerst raffinierten Machtmenschen Stalin schließlich völlig ausgeschaltet. Zwischen 1925 und 1927 wurde er aus allen Staats- und Parteiämtern entfernt und 1929 ins Exil getrieben. Nur die Türkei war bereit, ihn aufzunehmen.
Von dort ging er nach Frankreich, Norwegen und schließlich nach Mexiko, immer gehetzt von Stalins Schergen, immer verleumdet von dessen Propagandisten. Im Exil schrieb Trotzki seine Autobiografie »Mein Leben« (1930), die »Geschichte der russischen Revolution« (1931) und viele andere Arbeiten. In seinem Buch »Verratene Revolution« analysierte er 1936 das Aufkommen der neuen bürokratischen Herrscherschicht in der Sowjetunion. Nunmehr forderte er die Rückkehr des Sowjetregimes zu einer sozialistischen Demokratie, in der auch Parteien, die auf dieser Grundlage mit den Bolschewiki konkurrierten, ihren Platz haben sollten.
Trotzkis größte politische Leistung im Exil waren seine zahlreichen Schriften und Aktivitäten, in der er die Einheit der Arbeiterbewegung gegen den aufsteigenden Faschismus forderte, dessen qualitativ neue Gefährlichkeit er früher und besser begriff als die Führungen aller kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien. 1938 sagte er illusionslos »mit oder ohne Krieg die physische Ausrottung des jüdischen Volkes« durch den deutschen und europäischen Faschismus voraus.
Trotzki nahm an anderen Menschen stets nur die Eigenschaften als positiv wahr, die ihn selbst auszeichneten. Das machte ihn als Politiker blind für die Stärken seines Todfeindes Stalin. Dieser suchte ihn im mexikanischen Exil zu ermorden. Nachdem ein dilettantischer Anschlag des Malers Alvaro Siqeiros im April 1940 auf Trotzkis Leben fehlgeschlagen war, schickte Stalin seine Geheimagenten Pawel Sudoplatow, Leonid Eitingon und Iosif Grigulewitsch, denen der Spitzel Mark Sborowski Zuträgerdienste leistete, nach Mexiko.
Der dubiose Ramón Mercader, der sich bei Trotzki einzuschleichen verstand, führte am 20. August 1940 den Mordauftrag aus. Er attackierte ihn mit einem Eispickel am Kopf, einen Tag später erlag Trotzki seinen schweren Verletzungen. Auch Trotzkis vier Kinder starben eines unnatürlichen Todes: Sie wurden ermordet, verschwanden in der Sowjetunion spurlos oder begingen unter der Last der Verfolgung Selbstmord.
Doch gelang es Stalin nicht, Trotzkis Leistungen aus der historischen Erinnerung zu streichen. Nicht Trotzki, sondern Stalin wurde zum Totengräber der Revolution und nicht Trotzkis, sondern Stalins Name bleibt als der des Volksfeindes im Gedächtnis der Menschen haften.
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