Kaleidoskop der Gegenwart

Eine Gesellschaft, in der man ohne Angst verschieden sein kann, muss die Verschiedenheit zuerst anerkennen

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 5 Min.

Dass die Gegenwart im Argen liegt, ist nicht erst seit der Corona-Pandemie offensichtlich. Im letzten Jahr wurden in Deutschland in Halle und Hanau zwei große rechtsradikale Terrorangriffe verübt sowie der CDU-Politiker Walter Lübcke - mutmaßlich durch einen Nazi - ermordet. Dönerläden und andere migrantische Orte wurden angegriffen. In Thüringen kooperierten CDU und FDP mit der Höcke-AfD, um einen linken Ministerpräsidenten zu verhindern. Rechtsradikale Netzwerke in Polizei und Militär wurden aufgedeckt. Ganz zu schweigen vom alltäglichen Rassismus, Antisemitismus und Sexismus, die es gar nicht erst in die Nachrichten schaffen. Und nun auch noch Corona, eine Gesundheits- und Wirtschaftskrise mit nicht absehbaren Folgen.

Der Lyriker und Autor Max Czollek nimmt all das zum Anlass, um zur »Gegenwartsbewältigung« aufzurufen. Schon im Titel unternimmt er so eine sprachliche Volte: Er verbindet die Bewältigung, ein Wort, das wir in Deutschland im Kontext der Vergangenheit gemeistert zu haben glauben, mit der Gegenwart. Sprachlich wie inhaltlich führt er so die Thesen seines 2018 erschienenen Bandes »Desintegriert euch« weiter, in dem er die Forderungen nach Integration und Leitkultur und die selbstgerechte Sicht auf das deutsche »Gedächtnistheater« verurteilt hatte. Insbesondere Jüdinnen und Juden sowie Muslim*innen sollten sich gegen die ihnen zugeschriebene Rolle in der deutschen Mehrheitsgesellschaft wehren und sich dem selbstgerechten deutschen Diskurs der »Integration« und der vermeintlichen Toleranz entziehen, die am Ende doch nur eine Unterscheidung zwischen »guten«, integrationswilligen und »schlechten« Migrant*innen produziere.

Diese fehlgeleitete Unterteilung in »wir« und »sie« führt er im aktuellen Buch in einer wunderbar polemischen Analogie zwischen dem »Augusterlebnis« 1914 und dem »Märzerlebnis« 2020 vor. Damals, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, hatte Kaiser Wilhelm II. eine Stimmung beschworen, in der man »keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche« kannte. Einen ähnlichen Effekt schien nun das Coronavirus Anfang März zu haben, als es in erster Linie darum ging, als Deutsche »gemeinsam« die Pandemie zu besiegen.

Doch wer gehört zu diesem »Gemeinsam gegen Corona«? In der Antwort auf die Frage zeigte sich zuweilen eine Rückbesinnung auf nationale Denkweisen, die Czollek nicht zuletzt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Realitäten einer postmigrantischen und pluralistischen Gesellschaft für anachronistisch hält. Und als nicht geeignet für die Gegenwartsbewältigung - ein Begriff, der auf den New-Klezmer-Sänger und Dichter Daniel Kahn zurückgeht, der damit eine künstlerische Erkundung der verlorenen jüdischen Zukunft in Deutschland bezeichnet.

Verantwortlich für das Wiederauftauchen völkischen Denkens und von Debatten um Heimat sei ein »politisches Wunschdenken«, das, so der Czollek, Tradition habe in Deutschland. Pippi Langstrumpf singt: »Ich mach’ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt.« In Deutschland heißt es zwar offiziell: Identität, Verwurzelung, Kultur, Leitkultur, Demokratie. Doch konkret bedeutet dies nicht selten Antisemitismus und Rassismus.

Czolleks flott geschriebener Essay bewegt sich zwischen so unterschiedlichen Themen wie deutsche Erinnerungskultur, Sprachpolitik, Lyrik im Nachkriegsdeutschland, Rassismus in der DDR und aktuelle linke Politik. Und erschafft dabei ohne Zweifel ein Kaleidoskop der Gegenwart. Wenn auch dessen Teile etwas unverbunden nebeneinanderstehen. Doch im Detail gelingt es dem Autor - sichtlich belesen und quellenfest -, Konzepte wie Leitkultur, bürgerliche Mitte oder Hufeisentheorie zu erklären und zu kritisieren. Und dies macht er, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Zur Rechtsoffenheit der bürgerlichen Parteien schreibt er etwa: »FDP und CDU sind opportunistische Drecksparteien, die mit einem Faschisten gemeinsame Sache machen.«

Mit alldem bewegt sich Czollek thematisch nahe beim bereits 1997 verstorbenen Autor Eike Geisel, den er auch an einer Stelle zitiert. Wie Geisel - in dessen Aufsatzbänden »Die Wiedergutwerdung der Deutschen« und »Die Gleichschaltung der Erinnerung« - geht es Czollek um die »vermeintlich vorbildliche deutsche Erinnerungskultur« und Geschichtspolitik, der es seit den 90er Jahren - verlogen und manchmal fast schon offensiv - vor allem darauf ankommt, »aus dem Holocaust gelernt zu haben«, um damit die Erinnerung an die NS-Verbrechen loszuwerden und wieder internationales Ansehen erringen zu können. Gerade aus der offiziösen Erinnerung an den Holocaust erwächst neuer deutscher Nationalstolz.

Wie Geisel ist Czollek ein scharfer Beobachter des omnipräsenten Antisemitismus und des nach dem Untergang der DDR wachsenden Nationalismus. Wo Czollek manchmal die Scharfzüngigkeit, der Zynismus und die Polemik Geisels fehlt, hat er einen entscheidenden Vorteil: Sein Buch trifft mitten in die Diskurse der Gegenwart und stellt sich daher Fragen, wie ein postmigrantischer Antifaschismus aussehen kann, wo es Selbstorganisierung von Migrant*innen gibt, wie eine radikale Vielfalt gestaltet werden und wie darin eine jüdische und migrantische Perspektive auf die Gegenwart aussehen kann. Oder wie sich die Gesellschaft wandeln muss, damit alle Menschen Solidarität erfahren, jenseits von »wir« und »sie«.

Auch wenn er die richtigen Fragen stellt - beantwortet werden sie nicht. Und das geht auch gar nicht, denn das ist eine Frage der politischen Praxis, die die Theorie allein nicht anleiten kann. Zwar erwähnt Czollek Beispiele wie die Debatten um das Gomringer-Gedicht an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, die Kunstaktionen des »Zentrums für politische Schönheit« oder die Unteilbar-Demonstration mit einer Viertelmillion Menschen. Doch statt diese Ereignisse weitschweifend zu rekapitulieren, wäre es zuweilen schön gewesen, etwas praktischer zu werden: mit Aktivist*innen selbst zu sprechen und konkrete Bewegungen oder Gruppen vorzustellen.

Gleichwohl ist Czollek ein Buch gelungen, das zeigt, dass es auch unter Corona-Bedingungen weiterhin notwendig ist, für eine andere Gesellschaft zu streiten, in der man - Adorno zitierend - ohne Angst verschieden sein kann.

Max Czollek: Gegenwartsbewältigung. Hanser, 204 S., geb., 20 €.

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