Nichts als schöne Worte

Hagen Kopp von der »Initiative 19. Februar Hanau« über die schwierige Aufarbeitung nach dem Anschlag

  • Interview: Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 8 Min.

Hagen Kopp ist Gründungsmitglied der »Initiative 19. Februar Hanau«. In ihr haben sich Freiwillige und Angehörige zusammengeschlossen, um an die Opfer des rassistischen Anschlags zu erinnern. Die Mitglieder erneuern regelmäßig Blumen, Kerzen und Bilder an den beiden Tatorten und betreiben ein Ladengeschäft in der Hanauer Krämerstraße als Anlaufpunkt in der Stadt.

Sechs Monate ist es her, dass ein Rassist in Hanau zehn Menschen ermordete. Der hessische CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier erklärte kürzlich, dass jetzt die oberste Priorität sei, die Familien der Opfer nicht alleine zu lassen. Bekommen die Angehörigen die Unterstützung, die sie brauchen?

Ganz im Gegenteil - zumindest, wenn nach der hessischen Landesregierung gefragt wird. Die äußert zwar schöne Worte, aber handelt nicht nach ihnen.

Was meinen Sie?

In Hanau gab es eine Kette behördlichen Versagens vor der Tat, in der Tatnacht und auch danach. Die Angehörigen erwarten hier eine Aufklärung. Von den zuständigen Ministern und Behörden gibt es aber bis heute keine ehrliche Auseinandersetzung mit allem, was schiefgelaufen ist. Die Familien fühlen sich verhöhnt. Der Landesinnenminister Peter Beuth hat es bis heute nicht geschafft, sich bei ihnen zu entschuldigen.

Gab es dazu eine Möglichkeit?

Als im Mai die Familien der Opfer im Landtag waren, wäre es einfach für ihn gewesen, die Überforderung der Beamten zuzugeben. »Bitte verzeihen Sie. Wir werden versuchen, die Tat aufzuklären und in Zukunft unsere Arbeit besser zu machen.« Solche Worte wären ein Anfang gewesen. Aber stattdessen alles schönzureden - im Wissen, was die Angehörigen durchmachen mussten - das geht nicht. Die Familien fordern den Rücktritt von Beuth. Wir halten ihn für unfähig.

Wie ist es mit der materiellen Unterstützung?

Wir fordern umfangreichere und schnellere sozialpolitische Maßnahmen. Die gesetzlichen Soforthilfen für die Angehörigen reichen nicht aus, da braucht es weitere unbürokratische Unterstützung. Auch bezüglich neuer Wohnungen müssen Kommune und Land zusammenarbeiten, damit praktikable Lösungen für die Menschen gefunden werden, die hier zwischen Täterhaus und Tatorten leben. In Hanau-Kesselstadt gibt es bei vielen betroffenen Familien ein großes Bedürfnis umzuziehen.

Wie verhält sich die Stadtgesellschaft?

Wir haben den Eindruck, dass die Demonstration am Samstag stark von den Hanauern aufgegriffen wird. Viele hängen Plakate in ihre Schaufenster, in der Lokalpresse wird ausführlich berichtet. Dazu führt unsere Initiative seit Mai am Heumarkt, nahe des ersten Tatorts, einen Laden als offene Anlaufstelle. Hier kommen sehr viele Menschen aus der Stadt vorbei, um Unterstützung anzubieten. SPD-Bürgermeister Claus Kaminsky, er wird auch auf der Demo sprechen, hat wiederum in der Erinnerungspolitik ein Zeichen gesetzt. Er ist bereit, den Angehörigen zuzuhören und aus der Vergangenheit zu lernen. Dieses Prinzip verteidigt er auch gegen lokale Stimmen von der CDU und Hanauer Bürgern, die meinen, dass es doch jetzt mal gut sein müsste mit der Erinnerung.

Der CDU-Landtagsabgeordnete Heiko Kasseckert hatte jüngst gefordert, dass Hanau zur »Normalität« zurückkehren solle.

Die Angehörigen der Opfer waren über diese Worte sehr aufgebracht. Zumal sie erst vor ein paar Wochen ein Gespräch mit dem Politiker geführt hatten. Da war schon klar geworden, dass es große Unterschiede bei der Wahrnehmung gibt. Dass der Abgeordnete ihnen dann nachträglich aber noch in den Rücken fällt und so eine Debatte eröffnet, ist einfach nur schändlich. Viele Menschen in der Stadt fanden das auch unmöglich, und selbst in der CDU gab es wohl Widerspruch.

Was bedeutet der Ruf nach Normalität?

Solch eine merkwürdige Normalität einzufordern, bedeutet letztlich, einfach weitermachen zu wollen wie bisher. Dem stellen wir uns entschieden entgegen. Wir werden auch dafür sorgen, dass das Denkmal am Brüder-Grimm-Denkmal als provisorische Mahnstätte erhalten bleibt, bis das Hauptdenkmal, vermutlich am Marktplatz, entsteht. Später soll es auch Gedenktafeln an den Tatorten und ein Dokumentationszentrum geben. Das erinnerungspolitische Konzept ist in Arbeit.

Warum ist das Gedenken wichtig?

Ein Slogan aus unserer Anlaufstelle lautet »Erinnern heißt verändern«. Es ist wichtig, die Namen der Todesopfer nicht zu vergessen und immer wieder zu sagen, was hier geschehen ist. Die Familien der Opfer wollen nicht, dass Hanau nur eine Zwischenstation bis zum nächsten rechten Anschlag ist - Veränderung kann es aber nur geben, wenn Konsequenzen gezogen werden.

Der Bruder eines Ermordeten hatte es so formuliert: Als im Oktober 2019 der antisemitische Anschlag in Halle geschah, sagten Politiker, jetzt müsse endlich was passieren. Fakt ist aber, dass der Rassist in Hanau genau in dieser Zeit anfing, seine Tat zu planen. Die Behörden hätten es wissen müssen - wenn sie es nicht sogar wussten. Jetzt wiederholt sich das erneut. Irgendwo in Deutschland wird derzeit der nächste Anschlag vorbereitet.

Wie geht es den Familien mit diesem Wissen?

Das kann man nicht pauschal sagen, es sind sehr unterschiedliche Familien. Aber es beeindruckt mich doch sehr, wie sie alle immer wieder zusammenkommen, sich aufraffen und gegenseitig Halt geben. Sie versuchen irgendwie, mit dieser Katastrophe umzugehen. Ihre Entschlossenheit dabei ist bewundernswert. Viele verspüren aber auch Handlungsdrang und können noch gar nicht richtig trauern. Bis es soweit ist, kann es Monate oder Jahre dauern.

Kann politisches Engagement bei der Verarbeitung helfen?

Ja. Das gilt für die Opferfamilien im Besonderen, aber auch für mich als Unterstützer. Bei so einem wahnsinnigen Ereignis ist es wichtig, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Über die Tat zu sprechen, die Wut zu formulieren, Forderungen aufzustellen, Neues zu lernen - und das alles auch als gesellschaftliche Aufgabe zu verstehen - das ist wichtig und gehört in den Prozess des Trauerns und Verarbeitens hinein.

Nehmen wir die Familie von Vili Viorel Păun. Ihr Sohn war dem Täter hinterhergefahren und hatte sogar versucht, ihn zu stoppen. Er rief in der Nacht viermal bei der Polizei an, aber kam nicht durch. Dann wurde er schossen. Die Familie musste selber recherchieren, dass ihr Sohn eigentlich ein Held ist. So etwas herauszufinden schafft vielleicht keinen Trost - aber es hilft.

Sie haben Erfahrungen mit der Polizei angesprochen. Können Angehörige und Freunde der Toten den Sicherheitsbehörden noch vertrauen?

Gute Frage. Ich habe jüngst wieder mit einem der Überlebenden aus der Bar gesprochen. Er hatte seine Freunde verbluten gesehen und verließ dann das Gebäude, um die Polizei zu informieren. Er gab den Beamten das Autokennzeichen des Täters per Telefon, aber nichts geschah. Der Überlebende hat sich nun geschworen, nie mehr in seinem Leben mit der Polizei zu sprechen. Das sind Erfahrungen, die prägen - und die hier auch zu Wut und Entsetzen geführt haben. Wenn Politik und Behörden da Vertrauen zurückgewinnen wollen, müssen sie liefern.

Eine Aufgabe, die sich nicht nur auf Hanau beschränkt.

Das Versagen in Hanau reiht sich in das Versagen ein, das wir auch in Kassel rund um den Mord an Walter Lübcke erleben. Und an das, was wir jetzt wieder bezüglich der »NSU 2.0«-Drohschreiben sehen. Wenn wir dazu noch hören, dass die hessischen NSU-Akten auf 30 weitere Jahre weggeschlossen werden sollen, dann weiß man, woher der Wind im Land weht. Es ist ein umfassendes Problem.

Was wäre zu tun?

Es braucht einen anderen Umgang der Behörden mit Rassismus und eine bundesweite Entnazifizierung der Staatsapparate. Rechte Netzwerke dürfen nicht mehr weiter gedeckt werden. Nehmen wir den »NSU 2.0« in der hessischen Polizei. Klar ist es ein Problem, dass es diese Neonazis in der Behörde gibt, aber das vielleicht größere ist doch, dass alle Kollegen um sie herum schweigen. Das war auch schon im NSU-Komplex der Fall. Vermutlich haben Hunderte mitbekommen, was beim Verfassungsschutz ablief, aber niemand wagte es, den Mund aufzumachen. Da braucht es Druck auf allen Ebenen.

Eine weitere Sache sind die Waffen. Es ist völlig unverständlich, dass der Mörder von Hanau noch im August 2019 seine Waffenerlaubnis verlängert bekam und seine Waffen sogar europaweit legal tragen durfte. Das ist doch unfassbar. Rassisten müssten bundesweit systematisch entwaffnet werden.

Vieles davon wird auch auf der Samstagsdemonstration gefordert. Was erhoffen Sie sich konkret von dem Protest?

Rückendeckung für die Familien der Opfer. Ihr Kampf steht symbolisch für eine große Auseinandersetzung, die derzeit in Deutschland stattfindet. Wir müssen aber auch darüber hinaus betrachten, wie es in Hanau weitergeht. Die Behörden werden möglicherweise bald die Akten zum Anschlag schließen, und es wird wohl auch keinen Prozess geben. Wir überlegen daher bereits, welche nächsten Schritte angebracht wären. So oder so wird es weitergehen. Diese Demonstration ist für uns im Prozess der Aufarbeitung aber ein zentraler Zwischenschritt.

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