Frau Scheeres‘ Augenwischerei

Schulen weit vom Normalbetrieb entfernt/ Lehrer fühlen sich im Stich gelassen

  • Jérôme Lombard
  • Lesedauer: 4 Min.

Alles, aber kein Regelbetrieb. Mit Blick auf die Lage in den Berliner Schulen ist sich Tom Erdmann, Vorsitzender der Pädagogengewerkschaft GEW in der Hauptstadt, sicher: »Moderne pädagogische Lehrformen wie Gruppenarbeit, sind aufgrund der Abstands- und Hygienebestimmungen praktisch nicht umsetzbar«, sagt er im Gespräch mit »nd«. Wirkliches Lernen gebe es gut zwei Wochen nach dem Schulstart nach den Sommerferien nicht. An vielen Schulen gebe es keine Förderkurse, keinen Musikunterricht und häufig auch keinen Sportunterricht. »Von Seiten der Bildungsverwaltung wird derzeit sehr viel dafür getan, um einen Normalbetrieb vorzugaukeln«, kritisiert Erdmann. Der Pädagoge findet deutliche Worte an die Adresse von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD): »Sie betreibt Augenwischerei.«

Dass inzwischen schon fast 40 Schulen in der Hauptstadt mit Corona-Infektionen zu kämpfen haben, ist für den GEW-Chef keine große Überraschung. »Die Enge von Schule trägt dazu bei, dass Corona auftritt«, sagt er. Es sei nur eine Frage der Zeit, dass einzelne Schulen auch wieder ganz geschlossen werden müssten. »Auch wir als GEW finden es richtig und wichtig, Schule auch in Zeiten der Pandemie zu gestalten.« Man müsse aber aufpassen, dass die Bildungseinrichtungen nicht zu Infektions-Hotspots werden. Um das zu verhindern, müsste der Unterricht statt in voller Klassenstärke in Kleingruppen stattfinden. Dies funktioniere besser, und auch Hygieneregeln seien besser einzuhalten. Allerdings brauche man dafür mehr Personal, zumal ein erheblicher Teil der Berliner Lehrkräfte nicht für den Präsenzunterricht zur Verfügung stehen, weil sie zur Corona-Risikogruppe gehören, so Erdmann.

»Vor den Sommerferien haben unsere Kolleginnen und Kollegen mit dem Unterricht in Kleingruppen sehr gute Erfahrungen gemacht«, erklärt der Gewerkschafter. »An diese könnte und sollte man jetzt anknüpfen, anstatt eine Situation wie vor der Pandemie vorzugaukeln.« Von der Bildungssenatorin erwartete man vor allem eine ehrlichere Sprache. »Die Kolleginnen und Kollegen sind empört über das Verhalten von Frau Scheeres, sie fühlen sich mit ihren Sorgen und Nöten allein gelassen.«

Wie die Lage an der Basis derzeit wirklich ist, berichtet Lisa Reinhardt. Die 26-jährige Referendarin unterrichtet Politik und Geschichte an einem Gymnasium in Treptow-Köpenick. Sie sagt: »Auf uns Lehrkräfte wird gerade einfach verdammt viel Verantwortung abgewälzt und das finde ich nicht okay.« Die Vorgabe, Regelschulbetrieb umzusetzen, sei nicht realistisch. Sie müsse Unterrichtsstoff von vor den Sommerferien aufholen und zugleich den Rahmenlehrplan erfüllen. »Im Rahmenlehrplan ist aber auch Methodenkompetenz vorgesehen. Die schließt etwa Gruppenarbeit mit ein, nur wie soll ich die bitteschön unter Corona-Bedingungen und ohne Maskenpflicht im Klassenzimmer hygienisch sicher gestalten?«, fragt die angehende Lehrerin. »Von der Bildungsverwaltung bekomme ich darauf jedenfalls keine Antworten.« Sie selbst trage, wann immer möglich, auch im Unterricht einen Mund-Nasen-Schutz. Ihren Schülerinnen und Schülern empfiehlt sie das auch. Eine Pflicht zum Tragen gibt es in Berlin lediglich auf dem Flur und in Gemeinschaftsräumen, nicht so im Klassenraum. An ihrer Schule hätte sich eine Mehrheit der Lehrkräfte dafür ausgesprochen, die Maske auch im Unterricht zur Pflicht zu machen, erzählt die Referendarin. Nach Rücksprache mit der Bildungsverwaltung hätte die Schulleitung von der Maßnahme aber abgesehen. So weit reiche die Autonomie der einzelnen Schule rechtlich nicht, habe es zur Begründung geheißen.

»Ich finde diese Regelung sehr schwierig«, sagt die junge Pädagogin. »Es ist den Schülerinnen und Schülern pädagogisch nur schwer zu vermitteln, warum sie im Flur eine Maske tragen sollen, wenn sie dort mit ihren Freunden sprechen, im Klassenraum aber nicht.« Hier brauche es eindeutigere Vorgaben. Auch dazu, was passiert, wenn es einen Corona-Fall an ihrer Schule gibt. »Wenn es zu einem bestätigten Fall bei uns kommt, müsste eigentlich die gesamte Schule in Quarantäne und sich testen lassen«, sagt die Referendarin. In der gymnasialen Oberstufe mischten sich die Lerngruppen in den Wahlpflichtfächern regelmäßig. Da sei es nur schwer nachzuvollziehen, mit wem jemand alles Kontakt gehabt habe. »Im Kollegium herrscht sehr, sehr große Unsicherheit«, sagt die Referendarin. Am Freitag will sie nach dem Unterricht einen kostenfreien Corona-Test machen lassen. Diese Möglichkeit hat Scheeres allen Pädagogen in diesem Schuljahr eingeräumt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!