Als wären die Menschen egal
Der chinesische Regisseur Diao Yian bewegt sich weg vom Erzählen, hin zum Inszenieren: Der völlig unglamouröse Gangsterfilm »Der See der wilden Gänse«
Erste Idee, wie man mit diesem seine Welt in die schönsten Neo-Noir-Farben tauchenden Film umgehen will: Man vergisst erst mal den Plot. Ein Kleingangster wird von der Polizei gesucht und versucht, die Prämie, die auf seinen Kopf ausgesetzt ist, seiner Frau und seinem Sohn zukommen zu lassen. Das ist es schon. In der Hauptsache aber geht es in Diao Yinans Film um eine möglichst immersive Atmosphäre. Während die Menschen in diesem Film einander verfolgen, erschießen, köpfen und vergewaltigen, entfalten die Bilder ein vollständig schwarzes, sehr lakonisch gehaltenes Bild der Stadt Wuhan.
Und das fällt nicht sonderlich vorteilhaft aus, als Bild von Gesellschaft und auch ansonsten nicht. Noir-Ästhetik geballt: alles im Halbschatten, mit scharfen Kontrasten, die Interieurs deprimierend, die Straßen verdreckt. Die Inszenierung von Regisseur Diao Yinan ist schon auch selbstverliebt und, wie man dann so sagt, der eigentliche Star des Films. Eine Schlägerei wird in fragmentierende Nahaufnahmen zerlegt. Eine präzis geschnittene Tanz- und Beschattungsszene auf einem Markt, die in eine Schießerei eskaliert, mit dem sturzdebilen »Rasputin« von Boney M. unterlegt.
Wie schon beim 2014 erschienenen Vorgänger »Feuerwerk am helllichten Tage« werden Tristesse und Gewalt bei Diao Yinan immer wieder von einem seltsam ungreifbaren Humor unterlaufen, der auch dazu führt, dass jeder Glamour, den das Genre Gangsterfilm ansonsten gerne behauptet, hier wegfällt. In dem Bandenkrieg, der gleich zu Beginn einsetzt, geht es um die Vergabe von Territorien zum Mofaklau. Und das Wertvollste am Mofa, also der Grund, warum dann auch gleich am Anfang einer dem anderen buchstäblich ins Knie schießt, ist die Mofabatterie. Schwer, sich einen unspektakuläreren Anlass für einen Mord auszudenken.
Der Humor und die vereinzelten drastischen Bilder, die bedrückende Atmosphäre und die wunderschönen Bilder erzeugen Dissonanzen, die hier so etwas wie eine wiedererkennbare Autorenhandschrift bilden. In dieser Hinsicht ist »Der See der wilden Gänse« eine Variation von »Feuerwerk am helllichten Tage«, mal abgesehen davon, dass sich die Besetzung in zentralen Rollen (Lun-Mei Gwei und Fan Liao, beide toll) überschneidet, die nach sechs Jahren einfach im selben Modus weiterspielen können.
Eine Variation auch in dem Sinne, dass der Plot von Auslassungen und Leerstellen bestimmt ist, die dazu führen, dass man hin und wieder nicht genau weiß, was gerade warum genau passiert. Das ist aber keine Nachlässigkeit, sondern genau konstruierte Methode: Wenn die Geschichte nur ein Gerüst ist, für die Bilder und den Schnittrhythmus, kann sie einem auch weitgehend egal sein.
Mit dieser Verschiebung weg vom Erzählen, hin zum Inszenieren und einem reinen Zeigen erweckt das Kino von Diao Yinan den Eindruck, als sei hier der blanke Ästhetizismus am Werk, und die Menschen in diesen Filmen wären ihm eher egal. Was noch befördert wird durch die Beiläufigkeit, mit der sie hier aus der Welt befördert werden und der Ausdruckslosigkeit, mit der die Lebenden sich selbst beim Scheitern und Draufgehen zusehen.
Das hängt von der jeweiligen Zuschauer*in ab, inwieweit man hier noch anderes sehen möchte als dunkle Schönheit und Noir-Tristesse. Dieser sehr eigensinnige Film lädt einen nicht dazu ein. Auf eine sehr raumgreifende Art faszinierend ist er aber so oder so.
»Der See der wilden Gänse«, Regie: Diao Yinan. China/Frankreich 2020, 113 min. Darsteller: Ge Hu, Lun-Mei Gwei, Fan Liao
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