Wird das Demonstrationsrecht vor dem Reichstag weiter eingeschränkt?

Politiker aller Parteien verurteilen Sturm hunderter Rechtsextremisten und Reichsbürger auf die Treppe des Reichstags

  • Lesedauer: 7 Min.

Berlin. Politiker von CSU und Grünen haben angeregt, die Beschränkungen für Demonstrationen in unmittelbarer Nähe des Bundestags zu erweitern. Hintergrund ist das Vordringen von Demonstranten mit schwarz-weiß-roten Reichsflaggen vor das Reichstagsgebäude am Samstag, das parteiübergreifend für Bestürzung gesorgt hat. Der CSU-Rechtspolitiker Volker Ullrich schlug vor, das faktische Demonstrationsverbot für den «befriedeten Bezirk» um den Bundestag nicht mehr nur auf die Sitzungstage des Parlaments zu beschränken.

«Wir müssen das Parlament als Verfassungsorgan und Symbol unserer Demokratie besser schützen», sagte Ulrich der «Welt». «Es wäre zu überlegen, ob der Geltung des befriedeten Bezirks »Bannmeile« nicht auch generell auf sitzungsfreie Wochen erstreckt wird, mit der Möglichkeit Ausnahmen zuzulassen.»

Auch der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz sieht Handlungsbedarf, ging aber nicht ganz so weit wie Ulrich: «Ich halte es für notwendig, vor dem Hintergrund der Ereignisse des Wochenendes, die Sicherheit des Gebäudes erneut zu diskutieren und zu verbessern. Der hohe Symbolcharakter des Reichstagsgebäudes muss bei den Regelungen zur Bannmeile zukünftig besser berücksichtigt werden», sagte er ohne genau zu sagen, welche Verbesserung er meint.

Die sogenannte Bannmeile ist im Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes geregelt. Danach kann in diesen Gebieten im Umfeld des Bundestags und Bundesrats in Berlin oder des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe nur demonstriert werden, wenn dort keine Sitzungen stattfinden. Der befriedete Bezirk um den Bundestag umfasst zum Beispiel auch den Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor.

Der parlamentarische Staatssekretär im Innenministerium, Stephan Mayer, sprach sich gegen eine Verschärfung der Regeln aus. «Ich sehe keine unmittelbare Notwendigkeit, aufgrund dieses einen zugegebenermaßen unerträglichen und beschämenden Vorfalls, die Bannmeile um den Reichstag zu erweitern oder die Regelungen zu verschärfen», sagte der CSU-Politiker.

Steinmeier will Polizisten treffen

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Politiker aller Parteien haben das Vordringen von Demonstranten auf die Treppe des Reichstagsgebäudes in Berlin am Samstagabend scharf verurteilt. Steinmeier teilte am Sonntag mit: «Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie. Das werden wir niemals hinnehmen.» Er dankte den Polizisten, «die in schwieriger Lage äußerst besonnen gehandelt haben». Am Montag will Steinmeier sich mit am Einsatz beteiligten Beamten in seinem Amtssitz Schloss Bellevue treffen.

Etwa 300 bis 400 Demonstranten hatten am Samstagabend Absperrgitter am Reichstagsgebäude in Berlin überwunden, wie die Polizei in ihrer Bilanz mitteilte. Sie stürmten die Treppe hoch und bauten sich triumphierend und lautstark vor dem verglasten Besuchereingang auf. Dabei waren auch die von den sogenannten Reichsbürgern verwendeten schwarz-weiß-roten Reichsflaggen zu sehen, aber auch andere Fahnen. Anfangs standen nur drei Polizisten der lauten Menge entgegen.

Nach einer Weile kam Verstärkung. «Ein Eindringen in den Reichstag war den Personen daher nicht möglich.» Die Polizei drängte die Menschen auch mit Hilfe von Pfefferspray zurück. Wie genau es zu dem Zwischenfall kam, wurde nicht erläutert. Die Polizei sei zu dem Zeitpunkt an der südlichen Seite des Reichstags zusammengezogen worden, hieß es. Diese Phase sei ausgenutzt worden.

Zuvor hatten nach ersten Schätzungen der Polizei vom Samstag knapp 40.000 Menschen aus ganz Deutschland auf der Straße des 17. Juni gegen die Corona-Politik demonstriert. Insgesamt waren laut Polizei noch deutlich mehr weitere Demonstranten bei anderen Veranstaltungen in der Innenstadt unterwegs. In der Bilanz vom Sonntag nannte die Polizei keine konkrete Zahl, sondern sprach nur von mehreren zehntausend Personen auf der Straße des 17. Juni.

Am Rande kam es vor allem vor der russischen Botschaft nahe dem Brandenburger Tor zu Angriffen von Reichsbürgern und Rechtsextremisten auf Polizisten. Aus einer Menge von 3000 Menschen wurden Steine und Flaschen geworfen.

Glitzer, Gates und Neonazis
35000 Hippies, Verschwörungstheoretiker, und Neonazis trafen sich zur «Coronademo» von «Querdenken 711» in Berlin

33 Polizisten wurden verletzt. 316 Menschen seien festgenommen worden, teilte die Polizei mit. Es gab 131 Anzeigen wegen Angriffen auf Polizisten, Widerstandes, Gefangenenbefreiung, Beleidigung, Körperverletzung und Verstößen gegen das Waffengesetz.

Bundespräsident Steinmeier betonte: «Unsere Demokratie lebt.» Wer sich über die Corona-Maßnahmen ärgere oder ihre Notwendigkeit anzweifele, könne das tun, auch öffentlich, auch in Demonstrationen. «Mein Verständnis endet da, wo Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen.»

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Nach diesen Szenen sollte der Letzte verstanden haben, dass es auch Grenzen des Anstands gibt, wie weit man mitträgt, wer mit einem mitläuft. Der Verantwortung, sich bei seinem Protest nicht von Extremisten instrumentalisieren zu lassen, kann sich niemand entziehen.» Dass es überhaupt zu diesem Angriff kommen konnte, «muss schnell und umfassend aufgearbeitet werden».

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sprach in der «Bild am Sonntag» vom dem symbolischen der freiheitlichen Demokratie. «Dass Chaoten und Extremisten es für ihre Zwecke missbrauchen, ist unerträglich.» Außenminister Heiko Maas (SPD) twitterte: «Reichsflaggen vorm Parlament sind beschämend.» SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz schrieb: «Nazisymbole, Reichsbürger- & Kaiserreichflaggen haben vor dem Deutschen Bundestag rein gar nichts verloren.» Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer zeigte sich «richtig wütend».

Unheilvolle Allianz
Stefan Otto über die politische Sprengkraft der rechtsoffenen Hygienedemonstrationen

«Meinungsfreiheit ja! Demonstrationsrecht ja! Hier aber wurde die Demokratie angegriffen. Reichsbürger, Nazis mit Reichskriegsflagge wollten den Deutschen Bundestag stürmen. Danke, dass Polizisten ihnen den Weg versperrten. Dieser mutige Polizist ohne Helm, der diesen Leuten den Zutritt verwehrt hat, sollte das Bundesverdienstkreuz erhalten», so Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch.

«Die Institution anzugreifen, die für diese Demokratie steht, ist ein Angriff auf die Demokratie selbst. [...] Dass Nazis mit Reichskriegsflaggen versuchen, den Bundestag zu stürmen, erinnert an die dunkelsten Zeiten deutscher Geschichte», erklärte Grünen-Chef Robert Habeck in den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

SPD-Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider kündigte an: «Ich werde morgen eine Sondersitzung des Ältestenrates beantragen, um die Pläne zur Errichtung einer Sicherheitszone zu überprüfen und für eine schnelle Umsetzung zu sorgen.» Bundestagspräsident Schäuble müsse mit dem Berliner Senat über das Sicherheitskonzept sprechen. Gegebenenfalls müsse der Bund den Bundestag selbst sichern.

Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) beklagte Angriffe auf Journalisten von Rechts, aber auch Behinderungen durch die Polizei.

Videos, die im Internet kursieren, zeigen, wie weit mehr als hundert jubelnder und grölender Menschen minutenlang auf und oberhalb der großen Treppe direkt vor der Tür des Reichstags stehen. Neben der Reichsfahne sind auch deutsche, amerikanische und russische Fahnen sowie Transparente zu sehen. Drei Polizisten versuchen, die Menge mit dem Schwenken von Schlagstöcken auf Abstand zu halten. Im Hintergrund ruft ein Mann: «Wir sind friedlich, wir sind friedlich.» Ein anderer Mann schreit ständig: «Wahnsinn, Wahnsinn.»

Der Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz versuchte noch am Abend eine Erklärung: «Wir können nicht immer überall präsent sein, genau diese Lücke wurde genutzt, um hier die Absperrung zu übersteigen, zu durchbrechen, um dann auf die Treppe vor dem Reichstag zu kommen.»

Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) dankte der Polizei, «dass sie diesen Spuk schnell beendet hat und auch den drei Polizisten, die sich zuerst den Demonstranten in den Weg gestellt hätten. »Das war sehr mutig.« Am Samstagabend hatte Geisel berichtet, über den Tag verteilt seien rund 300 Menschen festgenommen worden, allein bei den Angriffen vor der russischen Botschaft etwa 200.

Die Polizei war mit rund 3000 Beamten aus verschiedenen Bundesländern und von der Bundespolizei im Einsatz. Festgenommen wurde vor der russischen Botschaft auch der Vegan-Kochbuchautor Attila Hildmann, der sich selbst »ultrarechts« und einen Verschwörungsprediger nennt.

Nachdem die Polizei ursprünglich die Demonstrationen verboten hatte, gaben erst Gerichte die Erlaubnis. Den ersten Demonstrationszug am Samstagmittag ließ die Polizei nicht starten, weil die Mindestabstände zum Infektionsschutz nicht eingehalten wurden. Nachmittags konnten aber Zehntausende Menschen auf der Straße des 17. Juni im Tiergarten demonstrieren. Zu sehen war eine breite Mischung von Bürgern, darunter Junge und Alte sowie auch Familien mit Kindern. Auf Transparenten forderten sie den Rücktritt der Bundesregierung sowie ein Ende der Schutzauflagen und Alltagsbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie. Immer wieder skandierte die Menge unter anderem »Wir sind das Volk«. Agenturen/nd

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.