Die Justiz zwischen den Fronten

Kolumbiens rechte Regierung untergräbt die Unabhängigkeit in einem Klima der Gewalt gegen Staatsanwälte

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 4 Min.

Staatsanwalt Ronald Paz ist gezeichnet von dem Kugelhagel, der seinen Wagen durchsiebte. Mehr als fünfzig Kugeln wurden laut den Experten der Staatsanwaltschaft am 30. Mai auf das Auto abgefeuert. 22 schlugen ein, wovon zwei seine Kollegin Lorena Paredes und weitere zwei Paz schwer verletzten. Staatsanwältin Paredes und Staatsanwalt Paz waren auf dem Weg von Pasto nach Tumaco im Süden Kolumbiens. »Wir passierten Canaupí, als die Kriminellen das Feuer auf uns eröffneten. Sie haben wahrscheinlich das Auto verwechselt und dachten, wir wären von Los Contadores oder der Armee«, glaubt Ronald Paz.

Der 31-Jährige leitet eine Ermittlungseinheit der Staatsanwaltschaft und hat es ständig mit den beiden in der Region konkurrierenden illegalen bewaffneten Akteuren zu tun: Los Contadores heißt die paramilitärische Bande, die in Kokaanbau und Vertrieb über den Hafen von Tumaco involviert ist. Hinzu gesellen sich die Frente Oliver Sinisterra, eine Abspaltung der ehemaligen FARC-Guerilla, und die linke ELN-Guerilla, die an der Grenze zu Ecuador operiert. Für das Attentat ist laut den Ermittlungen die Frente Oliver Sinisterra verantwortlich. Sie ließ die beiden Staatsanwälte schwer verletzt laufen, erzählt Ronald Paz. Der Staatsanwalt, der in Pasto lebt, ist ein engagierter Jurist und für ihn ist klar, dass er die Arbeit wieder aufnehmen wird, wenn er sich erholt hat. Das wird dauern, denn eine Kugel hat ihm das rechte Auge zerstört und mehrere Operationen hat er noch vor sich.

Paz macht am Telefon gegenüber dem »nd« einen ungewöhnlich gefassten Eindruck. Für ihn ist nicht mangelnder staatlicher Schutz für das Attentat verantwortlich. »Die Region ist von der Topographie her kaum zu kontrollieren, Armee und Polizei sind durchaus präsent«, so Paz. Allerdings moniert er die Abwesenheit von Sozialprogrammen, um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. »Die Bauern in der Region bauen Koka an, weil es kaum Alternativen gibt.« Das liegt auch an der von Präsident Iván Duque praktizierten Blockade der Umsetzung des Friedensabkommens von 2016. Statt dem vereinbarten freiwilligen Ausreißen der Kokasträucher im Kontext von Sozialprogrammen und Infrastrukturinvestitionen, präferiert die Regierung seit Monaten wieder, Sprühflugzeuge gegen den Kokaanbau einzusetzen.

Die Gerichte verweigern bisher Duque die Gefolgschaft bei der Blockade des Friedensabkommens. Allerdings befinden sie sich seit dem 3. August in der Defensive. Da verfügte das Oberste Gericht des Landes Hausarrest gegen den rechten Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez (2002-2010). Gegen die Richter, die mit Namen und Foto in mehreren Tageszeitungen präsentiert wurden, läuft eine Kampagne in den sozialen Netzen. Als Guerilla-Richter, Steigbügelhalter der Linken und Ex-Präsidenten-Feinde werden sie diffamiert. Dabei machten sie nichts anderes als ihre Arbeit, sagt Luis Fernando Otálvaro, Vorsitzender der Gewerkschaft der Justizangestellten Asonal Judicial. »Dadurch wird die Autonomie und die Unabhängigkeit der Justiz in Frage gestellt«, warnt Otálvaro, der als Staatsanwalt in Medellín lebt.

Um die Unabhängigkeit der Justiz steht es in Kolumbien ohnehin nicht allzu gut. Die Generalstaatsanwaltschaft befindet sich bereits in den Händen der Regierung, denn seit Januar 2020 leitet mit Francisco Barbosa Delgado ein Jugendfreund von Präsident Iván Duque die Institution. Ihre Unabhängigkeit habe sie damit verloren, kritisiert Carlos Ojeda, Direktor der Hilfsorganisation für kolumbianische Richter (FASOL), die vom deutschen Richterbund und Misereor finanziert wird. FASOL steht Justizmitarbeitern wie Ronald Paz zur Seite. Mit psychologischer, juristischer und finanzieller Hilfe kümmert sie sich um den verletzten Staatsanwalt und seine Kollegin Lorena Paredes.

Laut den Statistiken von FASOL starben 393 Justizmitarbeiter*innen zwischen 1979 und 2018 - sie wurden Opfer von Mordanschlägen. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs, so Ojeda, denn die Zahl der Morddrohungen ist noch weitaus höher und das derzeitige Klima in Kolumbien extrem gewaltbereit. Das zeigt nicht nur der Anschlag auf Paz und seine Kollegin, sondern auch der Mord auf offener Straße an Alcibiades Libreros, Staatsanwalt aus Cali im Dezember 2019. 2020 sind es bereits 48 Massaker, bei denen laut dem Institut Indepaz 192 Aktivist*innen für Umwelt, Menschen- oder Landrechte ums Leben kamen.

Das Grundproblem für Staatsanwalt Paz ist die Polarisierung der Gesellschaft und die damit einhergehende Politisierung der Justiz. »Wir brauchen eine neue politische Generation, keine politische Kontinuität mit immer den gleichen Protagonisten«, meint der 31-Jährige. Doch die ist in Kolumbien derzeit kaum in Sicht.

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