Umkämpftes Gebiet

Warum es an der Zeit ist, endlich aller Opfer des NS-Vernichtungskrieges im Osten würdig zu gedenken

  • Jan Korte
  • Lesedauer: 7 Min.

Der deutsche Überfall auf Polen am 1.9.1939 und die Vernichtungspolitik gegenüber der polnischen Zivilbevölkerung war der Beginn des NS-Vernichtungskrieges in Ostmitteleuropa. Antisemitismus und Rassismus verbanden sich hier mit der NS-Lebensraumpolitik und führten zu einem von der NS-Herrschaft systematisch geplanten und durchgeführten Vernichtungsfeldzug gegen Polen, die Sowjetunion, aber auch Jugoslawien und andere Nationen. Neben fast drei Millionen polnischen Juden fielen dem deutschen Terror auch über zwei Millionen christliche Polen, weit überwiegend Zivilisten, zum Opfer.

Sie verhungerten, wurden zu Tode gefoltert, erschossen oder gehenkt. Ziel war es, Polen und die polnische Kultur auszulöschen; die Intelligenz des Landes zu ermorden; die Arbeitsfähigen als Sklaven zu benutzen, einen kleineren Teil davon einzudeutschen, die anderen zu sterilisieren oder per »Vernichtung durch Arbeit« auszurotten.

Jan Korte

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion im Bundestag ist auch Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Korte, Jahrgang 1977, war schon in der PDS politisch aktiv. Seit 2005 ist er Bundestagsabgeordneter. Im Februar dieses Jahres erschien sein Buch »Die Verantwortung der Linken«. Als Politiker beschäftigt er sich immer wieder auch mit geschichtspolitischen Themen.

Der hier veröffentlichte Text ist die gekürzte und bearbeitete Fassung eines Aufsatzes, der bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen ist. Vollständig ist er nachzulesen unter dasND.de/korte.

Was am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen begann, steigerte sich am 22. Juni 1941 zum Angriffs- und Vernichtungskrieg Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion, in dem durch die Nazis nicht nur alle Rechts-, sondern auch alle bis dato bekannten Zivilisationsregeln gänzlich aufgehoben wurden.

Jan Philipp Reemtsma sagte 1995 bei der Eröffnung der ersten so wichtigen Wehrmachtsausstellung: »Der Krieg der deutschen Wehrmacht im Osten ist kein Krieg einer Armee gegen eine andere Armee gewesen, sondern er sollte der Krieg gegen eine Bevölkerung sein, von der ein Teil - die Juden - ausgerottet, der andere dezimiert und versklavt werden sollte. Kriegsverbrechen waren in diesem Krieg nicht Grenzüberschreitungen, die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesicht des Krieges selber.«

Schon vor Beginn des Angriffs wurde in Befehlen und Weisungen klargemacht, dass jedwede Brutalität erlaubt und notwendig sei. Dabei gingen der in der Wehrmacht verbreitete übersteigerte Nationalismus, Antislawismus, Antisemitismus und besonders der Antikommunismus eine Verbindung ein, die alle Empathie und humane Selbstbeschränkung gegenüber dem Feind aufhob. Mit Unterstützung der Wehrmacht wüteten hinter der Front die Einsatzgruppen, die rund 2,5 Millionen Frauen, Kinder und Männer ermordeten. Damit bildete der Krieg gegen die Sowjetunion auch den Eintritt in die systematische, verwaltungsbürokratisch flankierte und arbeitsteilig organisierte Ermordung der Jüdinnen und Juden.

Der Krieg gegen die Sowjetunion war ein entgrenzter Vernichtungskrieg, wie ihn die Welt noch nicht erlebt hatte: 27 Millionen tote Sowjetbürger, davon 14 Millionen Zivilisten. Fast jede Familie in der UdSSR hatte Opfer zu beklagen. In besonderer Art und Weise waren die sowjetischen Kriegsgefangenen betroffen, die die ersten Opfer der Vergasungen in Auschwitz waren. Von den etwa 5,7 Millionen Rotarmisten, die in die Gewalt der Wehrmacht gerieten, kamen geschätzte 3,3 Millionen um.

Bis heute weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen gelöscht sind die ungeheuren Verbrechen an den Völkern Ost- und Südosteuropas im Rahmen des NS-Raub- und Vernichtungskrieges und der Ideologie vom »Lebensraum im Osten« sowie an vielen Menschen in den anderen im Krieg besetzten Staaten.

Als sich die Linke im November letzten Jahres danach erkundigte, in welcher Form Deutschland das Gedenken an den 75. Jahrestag der Befreiung und des Sieges über die Naziherrschaft in Deutschland und Europa begehen werde, antwortete die Regierung, sie werde »zu gegebener Zeit« informieren. Immerhin gab sie zu, dass Staatsministerin Monika Grütters außer einer kleinen Sonderausstellung in Karlshorst keine Pläne hege und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer keine »speziellen Veranstaltungen« in den Kasernen der Bundeswehr vorsehe. Beim Lesen der Antwort entstand fast der Eindruck, es wäre ihr neu, dass Deutschland als Anstifter des Zweiten Weltkriegs mehr als 18 Millionen deutsche Männer mobilisiert hatte, die zerstörend über Europa hergefallen waren, und dass ihr gar nicht in den Sinn kam, dass daraus vielleicht so etwas wie eine Verantwortung für ein würdiges Gedenken erwächst.

Das Verschweigen ist nicht neu. Im offiziellen Gedenken der Bundesrepublik und somit auch im Rahmen der Entschädigung von NS-Unrecht wurden viele Opfergruppen jahrzehntelang übergangen, ausgeblendet und schlicht vergessen. Die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen waren bis 2015 die größte Gruppe der »vergessenen Opfer«. Quasi in letzter Minute beschloss der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages im Mai 2015 eine symbolische finanzielle Anerkennungsleistung in Höhe von 2500 Euro. Vorausgegangen waren entsprechende Anträge von Linke und Grünen, die bis zuletzt insbesondere von der Union auf die lange Bank geschoben wurden.

Eine offizielle politische Geste, geschweige denn Entschuldigung von Bundestag und Regierung steht noch immer aus. Genauso harren auch die im Koalitionsvertrag angekündigten Pläne, »in der Hauptstadt das Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten« stärker zu akzentuieren, nach wie vor ihrer Umsetzung.

Immerhin wird seit einiger Zeit eine breitere Debatte darüber geführt, wie man endlich angemessen an den NS-Vernichtungskrieg im Osten erinnern könnte. Dabei stehen allerdings Befürworter eines »Polen-Denkmal« genannten Erinnerungsortes denjenigen gegenüber, die einen Gedenkort und ein Dokumentationszentrum für alle Opfer des NS-Vernichtungskrieges und der deutschen Besatzungspolitik fordern. Erstere wecken mit ihrem Ansatz Kritik, eine Nationalisierung des Gedenkens zu betreiben und zudem die deutschen Verbrechen aus ihrem ideologischen und politischen Kontext zu reißen. Zur zweiten Gruppe, die vor allem die Debatte und Aufarbeitung innerhalb der Tätergesellschaft im Blick hat, gehört die Initiative »Gedenkort für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik«, die sich seit 2013 für einen solchen Erinnerungsort in Berlin einsetzt und von der Bundestagsfraktion Die Linke unterstützt wird.

Neben unterschiedlichen Positionen zu dieser Frage wird die gegenwärtige Debatte auch von aktuellen außenpolitischen Auseinandersetzungen mit Russland stark behindert. Neben CDU/CSU sind es vor allem die Grünen, die aufgrund einer russlandfeindlichen Positionierung großer Teile ihrer Fraktion mauern und lieber auf ein reines »Polen-Denkmal« setzen. Ein Fürsprecher des »Polen-Denkmals« ist der CDU-Konservative Wolfgang Schäuble. Man müsse »dem nationalen Selbstbehauptungswillen gegen die doppelte Diktaturerfahrung in Osteuropa« Rechnung tragen, so Schäuble. Auch der Grüne Manuel Sarrazin hält es für »Schulmeisterei der Täternation Deutschland«, das national gefärbte Gedenken in Polen zu kritisieren.

Zweifel, ob es klug ist, nur für Polen ein Denkmal zu errichten, wischen die Unterstützer in der Regel forsch beiseite. Es ist aber kaum vermittelbar, dass von den vielen Ländern, die dem Vernichtungskrieg zum Opfer fielen, nur Polen ein »eigenes« Denkmal gewidmet werden soll. Eine Hierarchisierung des Gedenkens muss verhindert werden, denn nach welchen Kriterien sollte Polen dabei an oberster Stelle stehen und Russland, Ukraine, Belarus ignoriert werden? Weder das Kriterium des Zeitpunkts kann das rechtfertigen noch Kriterien wie die absolute oder relative Zahl der Opfer oder die Länge der Besatzung.

Hinzu kommt ein weiterer Gedanke: Die Schaffung eines »Polen-Denkmals« bei gleichzeitiger Ignorierung des Völkermordes in den Ländern der damaligen Sowjetunion ist nicht nur aus deutscher Sicht erinnerungspolitisch fragwürdig, sondern kann vorhandene Konflikte um Erinnerungspolitik verschärfen, etwa zwischen Polen und der Ukraine. Darüber hinaus erführen angesichts der polnischen Gebietsverluste an die Sowjetunion leicht erklärbare Konflikte zwischen Polen und Belarus unter dem Deckmantel der NS-Aufarbeitung eine unangemessene Einmischung aus Deutschland.

Es ist daher gut, dass sich in der Debatte etliche Historiker gegen eine Nationalisierung des Gedenkens positioniert haben. Denn das politische Gedenken ist ja zum Glück nicht nur eine staatliche Angelegenheit. Die antifaschistische Erinnerungsarbeit lebt in erster Linie von der Mitwirkung der Zivilgesellschaft, der Veteranen und antifaschistischer Organisationen. Aktuell erleben wir Zeiten des Umbruchs, der Verunsicherung, der Schwächung von Demokratie und sozialer Sicherheit. Weltweit sind Kräfte auf dem Vormarsch, die wieder nationalen Egoismus predigen, soziale Unterschiede und Klassenspaltung mittels völkischer Politik und Rassismus überdecken und die kritische Erinnerung an und Lehren aus Faschismus und Nationalsozialismus durch eine 180-Grad-Wende in ihr Gegenteil verkehren wollen. In solchen Zeiten ist es natürlich ein Problem, dass der Bundestag als Ort geschichtspolitischer Auseinandersetzung weitgehend ausfällt.

Der im Frühsommer 2020 präsentierte Vorschlag der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und des Deutschen Poleninstitutes sieht ein Denkmal mit angeschlossenem Bildungszentrum vor. Dabei handelt es sich um einen Kompromiss, der gemeinsames Denken einbezieht, den Fokus aber weiterhin auf die polnischen Opfer legt. Über diesen Vorschlag für ein Dokumentationszentrum zur deutschen Besatzungsherrschaft in Europa zwischen 1939 und 1945 und über seine Ausgestaltung würde sich eine intensive Diskussion auch im Bundestag lohnen.

Für uns als Linke ist klar, dass eine Nationalisierung des Gedenkens und Hierarchisierung der Opfergruppen verhindert und aller Opfer des NS-Vernichtungskriegs im Osten gedacht werden muss. Deshalb ist es gut, dass die Initiatoren die Möglichkeit einräumen, die Widmung »Mit dem deutschen Überfall auf die Republik Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Wir gedenken der Opfer von nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft und Vernichtungspolitik bis 1945.« auf dem Denkmal am »Platz des 1. September 1939« neben Deutsch und Polnisch auch in weiteren Sprachen anzubringen. Das wäre aus meiner Sicht dringend nötig, damit das Denkmal nicht nur ein Polen-Denkmal, sondern tatsächlich auch der zentrale deutsche Gedenkort für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Opfer in allen deutsch besetzten Ländern und Gebieten sein kann. Es bleibt viel zu tun.

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