Eine konservative, neoliberale Offensive
Lateinamerikas neue Rechte verfügt über große ökonomische Ressourcen. Ihr autoritärer Kurs wird oft von Militärs unterstützt
Die Gegenoffensive rechter Kräfte setzte ein, als die Mitte-links-Regierungen in Südamerika mit den wachsenden Schwierigkeiten nicht fertig wurden. In der Folge wurden in Brasilien, Argentinien, Uruguay und El Salvador rechte Regierungen gewählt. Die Mitte-links-Regierungen verstanden es nicht, die zweifellos erreichten sozialen Verbesserungen für die breite Masse der Bevölkerung in eine Unterstützung ihrer Politik umzumünzen. Mit einer Ausrichtung auf den Gewinn von Wahlkämpfen verloren sie in ihrer traditionellen Wählerschaft. Ansätze zur Überwindung des kapitalistischen Systems wurden nicht weiterverfolgt, da es zu keinen strukturellen Veränderungen in den Gesellschaften kam.
Die rechten Regierungen dieser Länder kehrten zum neoliberalen Modell der 1990er Jahre zurück: Es gab radikale Privatisierungen, dem Auslandskapital wurden Tür und Tor geöffnet. Begleitet wird dies von Kürzungen der Sozialprogramme und einer Verarmung der Bevölkerung. In Chile verschlechterte die zweite Regierung Sebastián Piñera die soziale Lage der Menschen dramatisch. Starke Mobilisierungen waren Ende 2019 die Folge. 30 Jahre nach Beendigung der Militärdiktatur lebt das Land nach wie vor mit der Verfassung aus der Pinochet-Zeit. Das chilenische Volk fordert daher die Einberufung einer konstituierenden Versammlung zur Annahme einer neuen Verfassung.
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In Kolumbien gewinnt Präsident Iván Duque mehr Unterstützung, je weiter er sich nach rechts bewegt. 60 Prozent der Gesellschaft unterstützen seine konfrontative Politik gegenüber Venezuela. Aber auch in Kolumbien gehen die Menschen auf die Straße und protestieren gegen Sozialabbau und Neoliberalismus.
In Uruguay verlor die Frente Amplio nach 15 Jahren an der Regierung die Wahl. Der siegreiche Kandidat der Partido Nacional, Luis Alberto Lacalle Pou, hat die Unterstützung der rechten Parteien und trat sein Amt am 1. März 2020 an. In Ecuador forcierte Präsident Lenín Moreno die Zusammenarbeit mit rechten Kräften und alten Eliten. Heftige Reaktionen der Bevölkerung zwangen ihn, von Maßnahmen neoliberalen Charakters abzurücken. In Paraguay agiert der aktuelle Präsident Mario Abdo Benítez im Interesse der konservativen Elite.
Die neue Rechte und ihre Förderer
Gegenwärtig tritt die Rechte mit dem Versuch an, ein anderes Gesicht zu zeigen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts mussten sich die alten Eliten in ihrem Wirken gegen Linksregierungen umstellen. Sie ersannen neue Mittel und Methoden, um die Kontrolle über die Gesellschaft zurückzuerlangen. Konstitutionelle Putsche wie in Honduras im Jahr 2009, in Paraguay im Jahr 2012 und in Brasilien gegen Präsidentin Dilma Rousseff im August 2016 wurden zur Norm. Nicht gewählte Organe wie Gerichte, Staatsanwälte und Polizei verwandeln sich in Exekutoren einer rechten Politik. Mithilfe der Medien werden im Interesse der konservativen Eliten Kampagnen organisiert, wie in Brasilien gegen Ex-Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva. Die Rechte erhält massive Unterstützung aus der traditionellen Mittelklasse, aber auch aus den Unterschichten. Charakteristisch für diese Mittelklasse ist ihre konservative Haltung. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass die Unterstützer neoliberaler Modelle in Lateinamerika rund 35 bis 40 Prozent der Wählerschaft ausmachen.
Die neue Rechte pflegt einen neuen Politikstil. Man suggeriert eine kosmopolitische Welt als Welt eines Neuen Zeitalters (New Age). Bestandteile dieses Politikstils sind die Professionalisierung politischer Kampagnen, auf kommunaler Ebene die Dezentralisierung der örtlichen Organe sowie die Sicherung der kulturellen Hegemonie durch Betonung des Individualismus. Diese Eigenart des »Neuen Zeitalters« und einer globalen Identität drückt sich in besonderer »Sorge« gegenüber der Umwelt aus. Militärdiktaturen werden gerechtfertigt. Man propagiert Werte wie Familie, Eigeninitiative und die Verehrung Gottes. All das ist verbunden mit einer Wiederbelebung der Monroe-Doktrin, die von der Trump-Administration besonders gegen Kuba, Venezuela und Nicaragua angewandt wird. Mit dieser Politik solidarisieren sich die Eliten Südamerikas. Sie sind Träger der konservativen, neoliberalen Offensive in Lateinamerika.
Brasilien: Rechtsruck, Chaos und Corona
In Brasilien gewann 2018 der ehemalige Hauptmann Jair Bolsonaro die Präsidentschaftswahl. Im Ergebnis kam es zu einer scharfen innen- und außenpolitischen Wende nach rechts. Bolsonaro hat sich inzwischen in eine äußerst verzwickte Lage manövriert. Sein Versuch, die Untersuchung möglicher Vergehen (Korruption) seiner Söhne durch die Absetzung des Polizeichefs und die Ernennung einer ihm genehmen Person zu verhindern, misslang. Die Kritik an seiner Haltung in der Coronakrise (»nicht mehr als ein Grippchen«) nimmt zu und das Leugnen der Folgen der Krise hat dramatische Folgen, was aktuell heißt: mehr als 120 000 Tote bisher und fast 4 Millionen Corona-Fälle (Stand 3. September).
Viele seiner Maßnahmen sind gefährlich: Mit einem Erlass zur Befreiung von Steuerzahlungen für private Munitionskäufe zur »Selbstverteidigung« sind pro Person Käufe bis zu 600 Schuss Munition erlaubt. Freie Fahrt erhielten Goldgräber, um Gold in indigenen Gebieten zu suchen. Ein weiterer Erlass befreit Kirchen von der Rückzahlung von Staatsschulden. Die von Finanzminister Guedes beförderten wirtschaftlichen Maßnahmen zur Privatisierung staatlicher Unternehmen lassen das internationale Kapital und das mit ihm assoziierte brasilianische jubeln. Es ist die Finanzoligarchie, die Bolsonaro unterstützt. Seine Massenbasis sichert er sich zudem in Zusammenarbeit mit fundamentalistischen religiösen Gruppen.
Bemerkenswert ist, dass Bolsonaro trotz der Coronakrise nicht an Unterstützung verliert. Er schürt bewusst das Chaos, da er die Militärs als Unterstützer hinter sich weiß. Faktisch agiert das Militär im Hintergrund. Nach Medienberichten sind 2000 Militärs in Ministerien, Agenturen, auf Landes- und auf Bundesebene tätig. Von 22 Ministern sind acht ehemalige Militärs. Nach den von Bolsonaro initiierten Mobilisierungen seiner Anhänger werden Forderungen nach einer Militärdiktatur und nach Wiederbelebung des Institutionellen Aktes Nr. 5 (AI-5) aus dem Jahre 1968 laut. General Augusto Heleno, Chef des Sicherheitskabinetts des Präsidenten, erklärte im Oktober 2019, dass bei ähnlichen Protesten wie in Chile dagegen etwas unternommen würde. Eine Neuauflage des AI-5 wäre denkbar. Offensichtlich ist das Militär angesichts der Coronakrise bestrebt, öffentliche Konflikte und weitere unsinnige Schritte Bolsonaros zu vermeiden. Sie wollen sich in der Coronakrise als moderierende Kraft zu zeigen. Damit hegen sie Bolsonaro ein, zumal sie den Vizepräsidenten, General Mourao, in der Hinterhand haben.
Aber auch er hat Probleme in seiner Gruppe. Unerwartet kamen zudem der Rücktritt des Justizministers Moro (als Richter verurteilte er Lula zu zwölf Jahren Haft) und dessen Aussagen bei der Bundespolizei gegen Bolsonaro. Nach Verlautbarungen verschiedener Medien leitete die Staatsanwaltschaft inzwischen Untersuchungen gegen Bolsonaro ein.
Der Putsch in Bolivien
Die Vorgänge in Bolivien seit dem Sturz von Evo Morales am 10. November 2019 zeigen, dass sich auch in dem Andenland die Rechte durchgesetzt hat. Der von rechten Kräften mit Unterstützung der Oligarchie, den Streitkräften, der Polizei und paramilitärischen Gruppen orchestrierte Staatsstreich brachte eine Regierung unter »Führung« von Jeanine Áñez zustande, die mit Gewalt und Terror begann. Bei Zusammenstößen von Protestierenden mit diesen Kräften kamen 35 Menschen ums Leben, 800 wurden verletzt und 1500 verhaftet. Die Welle der Gewalt hält bis heute an. Verfolgt werden Anhänger von Evo Morales, Journalisten und vor allem Menschen indigener Abstammung. Mit der Corona-Pandemie verschärfte sich die Lage. Die selbst ernannte Präsidentin Áñez nutzt die Pandemie, um ihre Macht abzusichern. Die ursprünglich für den 3. Mai 2020 vorgesehenen Neuwahlen wurden durch das Gesetz vom 30. April um 90 Tage verschoben. Áñez lehnte das Gesetz ab, obwohl ihr »Mandat« am 3. Mai endete. Sie nutzte erneut die Pandemie, um die Wahl auf unbestimmte Zeit zu verschieben und somit ihr neoliberales Projekt mit Unterstützung des Militär- und Polizeistaates durchzusetzen. Inzwischen wurde auf Druck der sozialen Bewegungen der 18. Oktober per Gesetz als spätestmöglicher Wahltermin festgezurrt. Trotz Pandemie, Gesundheitsnotstand und Widerstand in der Bevölkerung werden strukturelle Entscheidungen antinationalen Charakters durchgesetzt. Etwa die Ausweitung der Konzessionen für Ländereien, die Liberalisierung des Exports landwirtschaftlicher Erzeugnisse sowie von Soja, die dem Binnenmarkt fehlen, die Rückgabe von enteigneten Ländereien an Großgrundbesitzer, besonders in indigenen Gebieten, und das Abbrennen von Wäldern zur Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzflächen in Naturreservaten.
Die soziale Lage hat sich verschlechtert. Menschen sterben vor Hunger, die Suizidzahlen erhöhen sich. In der Region Santa Cruz, wo 60 Prozent der Infektionen registriert wurden, brach das Gesundheitssystem zusammen. Anfang April wurden im Land 3800 Tote und 48 000 Infizierte registriert. Gesundheitsminister Navajas, zuvor Arzt in der US-Botschaft und Befürworter einer Privatisierung des Gesundheitswesens, tut wenig gegen die Krise. Der Protest dagegen verstärkt sich: soziale Bewegungen, die Bauernorganisationen, indigene Gruppen, Frauen und Intellektuelle, die teilweise den Putsch vom November 2019 unterstützt hatten, wehren sich.
Während der Präsidentschaft von Evo Morales entwickelte sich Bolivien vom ärmsten Land Lateinamerikas zum Land mit der höchsten Wachstumsrate mit einem jährlichen Durchschnitt von 4,9 Prozent. Das BIP vervierfachte sich von 9500 auf 45 000 Millionen US-Dollar. Die Armutsquote wurde von 38 auf 15 Prozent reduziert. Angesichts der Fortschritte, die Bolivien in den Jahren der Präsidentschaft von Evo Morales gemacht hat, muss man nach den Gründen für das Erstarken der politischen Rechten fragen. Ein wichtiger Grund dafür war sicherlich die Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Regierung und den sozialen Bewegungen. Dahinter stand die Gewalt gegen Proteste gegen das Projekt eines Straßenbaus durch indigene Naturschutzgebiete. Nicht zuletzt scheiterte Morales, weil er ein Referendum zur Fortsetzung seiner Präsidentschaft im Jahr 2015 verlor und trotzdem wieder kandidierte.
Die Pendelbewegung
Die traditionellen Eliten verfügen über erhebliche ökonomische Ressourcen; sie bestimmen wieder das politische Geschehen. Ihr Denken ist konservativ, ja autoritär. Sie neigen mit Unterstützung der Militärs zur Repression, wie die häufigen Militärputsche und Diktaturen in der fast 200-jährigen Geschichte dieser Staaten zeigen. Charakteristisch für die herrschenden Klassen war und ist ihre Unfähigkeit zur Realisierung nationaler Projekte, fehlendes Interesse an einer eigenständigen Industrialisierung und an einer auf nationale Souveränität ausgerichteten unabhängigen Politik.
Zugleich zeigt die Geschichte Lateinamerikas immer wieder starke Volksbewegungen und auch revolutionäre Entwicklungen. Dem folgten wiederum regressive und konterrevolutionäre Prozesse. Diese Pendelbewegung finden wir auch seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Gegenbewegungen zu dem Rechtsruck finden wir in Mexiko, wo 2018 der Linke Andrés Manuel López Obrador Präsident wurde. In Argentinien wurde am 27. Oktober 2019 gewählt, wobei sich das linksperonistische Duo Alberto Fernández und Cristina Fernández Kirchner mit 48 Prozent durchsetzen konnte. Und auch die Protestbewegungen in Ecuador, Chile und Argentinien künden von einem Umschlagen des Pendels in eine neue, linke Richtung.
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