Schon wieder »Nowitschok«?

Die Schuldzuweisungen gegen den Kreml sind derzeit vor allem politisch motiviert - Transparenz täte den Ermittlungen gut

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Bundeskanzlerin Angela Merkel verurteilte den »versuchten Giftmord« an Alexej Nawalnyj »auf das Allerschärfste«. Ihr Möchtegern-Nachfolger, der Vorsitzende des Auswärtigen Parlamentsausschusses Norbert Röttgen (CDU), sieht die Welt »erneut brutal mit der menschenverachtenden Realität des Regimes Putin konfrontiert«. Im Deutschlandfunk wetterte er am Donnerstagmorgen, wenn es jetzt zur Vollendung der Gaspipeline Nord Stream 2 käme, »wäre das die maximale Bestätigung für Wladimir Putin, mit genau dieser Politik fortzufahren, denn er wird ja dafür sogar noch belohnt«. Auch aus anderen politischen Richtungen in Deutschland und der westlichen Welt, die USA ausgenommen, hört man politisch motivierte Schuldzuweisungen in Richtung Kreml.

Möglich, dass russische Dienste hinter dem Attentat stecken. Doch sind die tatsächlich so fantasielos? Es gibt bestimmt ein Dutzend andere Möglichkeiten, Nawalnyj umzubringen oder ihm nachhaltig Schaden zuzufügen. Warum sollte man ausgerechnet »Nowitschok« verwenden? Mit diesem Nervenkampfstoff wollten angeblich zwei russische Geheimdienstler bereits im März 2018 den russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia umbringen. Der Anschlag im britischen Salisbury schlug - so der Tod beider das Ziel war - fehl. Moskau stand am Pranger. Sanktionsverschärfungen waren die Folge. Und die soll Moskau nun im Fall Nawalnyj auf dieselbe plumpe Art und Weise provozieren? Seltsam.

Es bleibt Fakt: Ärzte des Berliner Universitätsklinikums Charité, in dem Nawalny behandelt wird, stellten bereits vor einer Woche fest, dass ihr Patient an einer »Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer« leidet. Ein nicht näher bezeichnetes Bundeswehr-Labor stellte nun fest, dass der Angriff mit einem Gift aus der Nowitschok-Gruppe erfolgte. Es wäre sicher von Vorteil gewesen, wenn diese Analyse transparent durch ein tatsächlich unabhängiges Labor - beispielsweise das im Schweizer Spiez - bestätigt werden könnte.

Die Urversion von Nowitschok wurde ab 1973 von dem russischen Chemiker Pjotr Kirpitschow entwickelt. Der arbeitete am Staatlichen Forschungsinstitut für Organische Chemie und Technologie in Schichany. Mit damaligen Analyseverfahren war die Substanz nicht nachweisbar und folglich für Militärs wie Geheimdienstler interessant. Nach und nach entstanden weitere Varianten. Angeblich sind es inzwischen mehr als 100.

Theoretisch dürfte keine existieren, denn 1987 hatte der damalige Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, verkündet, die Sowjetunion beende die Herstellung chemischer Waffen. Bestehende Produktions- und Forschungseinrichtungen würden nur noch zivil genutzt. Doch »Nowitschok« wurde weiterproduziert - mit der Begründung, es zivil nutzen zu wollen. Man umging so bestehende Abrüstungsverträge und forschte weiter. 1990 fanden sogar Freiluftversuche statt. Auch die Produktion lief an, eine Anlage dazu stand in Usbekistan. 1993 verließen die letzten russischen Wissenschaftler das inzwischen unabhängige Land. Dessen Regierung bat die USA um Hilfe beim Abbau und bei der Dekontamination der Anlagen.

Anders als wiederholt behauptet, ist der Aufbau der Nowitschok-Gifte also längst kein Geheimnis mehr. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die UN-Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) unterrichtet. US-Amerikaner und Briten, das ist belegbar, vereinbarten Stillschweigen über ihre Nowitschok-Untersuchungen. Doch es scheint sicher, dass die Zusammensetzung der Substanzen den Forschern im britischen Labor von Porton Down ebenso wie jenen in Edgewood (USA) seit Jahrzehnten bekannt ist.

Ein Angriff auf Nawalnyj unter »fremder Flagge«, mit dem jemand Russland schaden und die EU unter deutscher Führung abermals in eine harte Anti-Kreml-Stellung bringen will, ist also keineswegs auszuschließen. Es ist auch nicht gesagt, dass hinter all dem staatliche Akteure stecken. Man weiß zu wenig über die Herkunft des Giftes. Altbestände oder neue Produktion?

Um eine der Nowitschok-Verbindungen in kleinen Dosen herzustellen, braucht es keine besonderen Laboratorien. Es reicht durchschnittliches Fachwissen, und solange die beiden Komponenten des Binärkampfstoffes getrennt sind, besteht auch keine Gefahr. Etwas Geschick und Umsicht braucht es nur, wenn man das Zeug »scharf« macht. Umso leichter lassen sich äußere Spuren beseitigen, denn »Nowitschok« ist in der Umwelt nur begrenzt haltbar. Falls Nawalny also das Gift - wie vermutet - beim Trinken eines Tees aufgenommen hat, sind alle sachlichen Beweise beim Abwasch beseitigt worden.

Bekannt ist, dass »Nowitschok 5« und »Nowitschok 7« brutale Kampfmittel und bis zu achtmal toxischer sind als das gefürchtete VX. Wäre der Oppositionspolitiker damit angegriffen worden, hätte man nur Nachrufe drucken können. Andere Nowitschok-Varianten wirken subtiler. Sie dringen durch die Haut oder über den Magen-Darm-Trakt in den Körper ein und sind nicht geeignet, einen Menschen zu töten - wohl aber als unmissverständliche Drohung. Und die könnte dauerhaft wirken, denn noch weiß man wenig über mögliche Langzeitschäden. Mediziner gehen davon aus, dass Gedächtnisverlust und motorische Störungen denkbar sind - was man wiederum als Indiz dafür werten könnte, dass der Täter Putin-Freund war.

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