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Für jedes Opfer ein Pate
In Altglienicke soll eine würdige Erinnerungsstätte für Naziopfer entstehen
Die vor allem jungen Zuhörer sind sehr aufmerksam. Dabei ist es ihr freier Samstagnachmittag, den die Jugendlichen hier auf dem Friedhof Altglienicke damit verbringen, einem älteren Herrn zuzuhören, der auf eigene Art erzählt, warum er seit 20 Jahren immer wieder an diesen Ort kommt und was er für ihn bedeutet. »Ich will euch nicht als Widerstandskämpfer unter einem Fallbeil sehen«, sagt Klaus Leutner zu der Gruppe von Schüler*innen, aber er sagt es ohne Pathos. Deshalb berichtet er ihnen über die Menschen, die hier in einer unscheinbaren Grabanlage an der Friedhofsmauer bestattet sind.
Das Gelände des kleinen Friedhofs wird zwar eher vom Eindruck einer großen Feierhalle und einem »Ehrenhain« für Gefallene des Ersten Weltkriegs im hinteren Teil bestimmt. Aber auf dem Friedhof Altglienicke wurden auch 1284 Menschen beerdigt, die in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau, in Tötungsanstalten im Rahmen von Patientenmorden in Hartheim, Sonnenstein, Bernburg, Grafeneck, Brandenburg und Hadamar sowie in der Haftanstalt Plötzensee ermordet wurden. Darunter sind Roma und Sinti, polnische Zwangsarbeiter und Priester, jüdische Kommunisten ebenso wie Menschen, deren Leben die Nationalsozialisten bei ihren Tötungsaktionen an Behinderten auslöschen ließen. Bis Klaus Leutner begonnen hat, dieses Wissen zusammen zu tragen, war es niemandem bekannt. Von offizieller Seite wurde etwa 1950 ein aus heutiger Sicht recht minimaler, zusammenfassender Gedenkstein eingerichtet. »Erst beim Lesen der Inschrift auf diesem Gedenkstein offenbart sich, auf einem Sammelgrab zu stehen«, wird es auf einer neuen Webseite des Erinnerungsortes treffend beschrieben.
Der 78-jährige Leutner ist von Herzen Antifaschist, daran besteht kein Zweifel. Deshalb hat er sich auch mit dem Zentrum für Demokratie zusammengetan, dass in Schöneweide und Treptow-Köpenick aktiv gegen Diskriminierung Netzwerke und Partnerschaften unterhält. »Über die letzten zwei Jahre hin hat sich unsere Zusammenarbeit mit Herrn Leutner konsequent verstetigt«, erklärt Claudia Max dem »nd«. Ihr Verein hat den Austausch und den Rundgang über das Grabfeld organisiert. Auch die neu eingerichtete Fachstelle TKVA - Treptow-Köpenick für Vielfalt und gegen Antisemitismus ist als Kooperationspartnerin dazu gekommen. Aber es bleibt Klaus Leutner, der die Initiative angestoßen hat, die spätestens im Juni 2021 in die Eröffnung einer Gedenkstätte münden soll. Bei seinen lange zurückliegenden Recherchen zu einer in der Hinrichtungsstätte Plötzensee von Nazihenkern ermordeten jungen polnischen Zwangsarbeiterin Bronislawa Czubakowska, die in einer Leichtjute-Fabrik in Brandenburg/Havel Sabotage begangen haben soll, stieß Leutner auf eine merkwürdige Eintragung im Totenbuchs des Friedhofs. »80 Urnen mit angeblich anonymen Toten sind von der Charité 1952 hierher verbracht und dann bestattet worden«, berichtet Leutner. Ihm sei sofort klar gewesen, dass es sich dabei nur um Hinrichtungsopfer der Nationalsozialisten gehandelt haben könne, erinnert sich der pensionierte Eisenbahner. Er machte sich daran, herauszufinden, um wen es sich handelte. Erst nachdem er Gedenkveranstaltungen organisiert hat, zu denen Angehörige aus mehreren polnischen Gemeinden anreisen, erkennt auch der Berliner Senat die Bedeutung des Ortes an und schreibt die Einrichtung eines Gedenkortes aus, der nun von der Künstlerin Katharina Struber und dem Architekten Klaus Gruber umgesetzt wird.
Herzstück der Neuplanung ist eine grüne Glaswand, die Namen und Lebensdaten der Opfer in einer besonderen Form zeigen wird: alle Daten werden handgeschrieben. Am 27. Januar diesen Jahres fanden sich bereits 895 Personen im Rathaus Köpenick ein, um den Namen jeweils eines Toten oder Zeilen für einen unbekannten Toten zu schreiben.
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