»Das Boot war überfüllt, es kam Wasser rein. Panik brach aus.«

Anna Popescu vom Alarmphone über Notrufe von Geflüchteten und das Nichtstun der Bundesrepublik

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 8 Min.

Auf der »Etienne« sitzen seit 38 Tagen 27 Menschen fest, die die Besatzung aus dem Meer gerettet hat. Weder werden sie von der Küstenwache abgeholt, noch kann das Schiff einen sicheren Hafen anfahren.

Seit über vier Wochen.

Interview

Anna Popescu ist seit zweieinhalb Jahren in der Berliner Alarmphone-Gruppe. Sie macht regelmäßig acht Stunden lang Schicht am Telefon, um Notrufe von Geflüchteten in Seenot entgegenzunehmen. Das Alarmphone wurde im Herbst 2014 gegründet. Rund 200 Menschen in Europa und Nordafrika sind heute Teil des Netzwerks.

Transparenzhinweis: Der nd-Shop unterstützt Alarmphone. Er verkauft das griechische Mazi-Olivenöl der Kooperative Messinis Gea. Von jedem verkauften Liter geht in diesem Jahr ein Euro an Alarmphone. 

Das ist ein neuer Rekord. Die »Etienne« ist ein Tanker. Es kommt kaum noch vor, dass private Schiffe, die zu keiner Seenotrettungsorganisation gehören, Flüchtlinge aus dem Meer retten, oder?

Ja, das ist leider eher ungewöhnlich. Obwohl es laut Seerecht die Pflicht von jedem Schiff wäre. Aber gerade kommerzielle Unternehmen sagen normalerweise, das kostet zu viel Zeit, das ist zu viel Einbuße, das machen wir nicht. Aber die »Etienne« hat das gemacht, und sie bekommt keinen sicheren Hafen.

Ist das Absicht?

Mit Sicherheit. Jetzt hat sich mal wieder ein Schiff getraut, Geflüchtete aufzunehmen. Der Besatzung wird nun richtig gezeigt, dass das für die Firma einen großen Schaden bedeutet.

Auf der »Etienne« sind auch Geflüchtete, die durch Ihre Hilfe gerettet wurden: Das Alarmphone hält eine Telefonnummer bereit, die übers Mittelmeer flüchtende Menschen anrufen können, wenn sie in Seenot geraten. Am anderen Ende sitzen Ehrenamtliche wie Sie. Wie läuft das ab, wenn jemand von einem Boot bei Ihnen anruft?

Das Alarmphone besteht aus 200 Beteiligten in vielen Städten Europas und Nordafrikas. Wir machen Acht-Stunden­Schichten, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Wenn Leute anrufen, ist das Wichtigste, möglichst schnell möglichst viele Infos zu kriegen: Wo ist das Boot, läuft der Motor noch, ist Wasser eingedrungen? Wir haben für jede Region - westliches Mittelmeer, zentrales Mittelmeer, Ägäis - Pläne, was wir zu tun haben. Zum Beispiel sagt uns jemand, dass sich das Boot irgendwo im griechischen Gewässer befindet. Dann rufen wir die griechische Küstenwache an und sagen, hier ist ein Boot in Seenot, die Menschen müssen gerettet werden. Formal ist jedes Boot mit Geflüchteten in Seenot, weil zu viele Menschen an Bord sind, und es allein dadurch nicht seetüchtig ist. Real reagieren viele Behörden erst, wenn tatsächlich Wasser reinläuft. Und häufig reagieren sie mit Verzögerung.

Welcher Fall aus der kürzeren Vergangenheit ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Ich hatte mit einem Boot im zentralen Mittelmeer zu tun. Den Kontakt hatte schon die Schicht vor mir aufgenommen. Das Boot war seit einem Tag unterwegs, es konnte noch fahren, aber der Motor war nicht mehr richtig funktional. Die Menschen waren noch in libyschen Gewässern, die libysche Küstenwache wusste von dem Boot, hat aber nichts gemacht. Es ist einfach niemand gekommen. Das Boot war überfüllt, es kam Wasser rein. Die Menschen wurden langsam panisch. Und Panik macht die Situation schlimmer. Dann ist das Risiko viel größer, dass jemand ins Wasser fällt, weil das Boot wackelt, und dass die Leute sich gegenseitig demoralisieren. Sie haben immer wieder angerufen, alle fünf Minuten, weil sie einfach jemanden gebraucht haben, der ihnen sagt, ihr kommt schon weiter. Ich konnte letztlich immer nur sagen, wir haben die Küstenwache informiert, sowohl die libysche als auch die italienische, es gibt keine Reaktionen, wir rufen noch mal an. Aber ihr fahrt ja noch, und das schafft ihr schon. Das fühlt sich natürlich auch für uns nicht besonders toll an. Wir sind für die Leute da. Das ist viel, aber viel zu wenig.

Was machen Sie, wenn die Behörden nicht reagieren?

Dann versuchen wir, durch Öffentlichkeitsarbeit Druck auf sie auszuüben. Über Twitter und andere soziale Medien. Häufig funktioniert es auch.

Wie?

Durch Retweets. Viele Menschen folgen uns, lesen das, verbreiten den Tweet weiter. In größeren Fällen schalten sich dann auch mal Politiker*innen ein, machen von ihrer Seite aus Druck, sprechen selbst in der Öffentlichkeit. Das sind natürlich immer die gleichen Leute, zum Beispiel Erik Marquardt von den Europäischen Grünen.

In Ihrer Dokumentation zum fünften Jahrestag im Oktober 2019 habe ich diesen Satz gelesen: »Wir bauen Beziehungen auf, die meisten von ihnen dauern nur bis zum Ende des letzten Anrufs.« Das klingt schön, aber auch traurig.

Ja, sehr. Ein großer Teil unserer Arbeit besteht daraus, Vertrauen aufzubauen und für jemanden da zu sein, Unterstützung zu geben. Wenn die Schicht zu Ende ist, ist es oft total schwer aufzuhören. Weil es sich so anfühlt, wie eine Beziehung abzubrechen. Wir waren uns gerade noch so nahe, sie haben ihre Ängste mit mir geteilt - und plötzlich ist es vorbei. Es gibt tatsächlich Menschen, die wir wiedertreffen, aber relativ selten. Es gibt auch Menschen im Netzwerk, die wir auf ihrer eigenen Überfahrt kennengelernt haben.

Die Beziehung endet oft mit der Schicht. Sie endet auch, wenn die Menschen gerettet werden. Aber es kann auch sein, dass das Boot untergeht. Ist Ihnen das schon passiert? Wie geht man damit um?

Ja, ich hatte einen Fall, da konnte nur ungefähr die Hälfte der Leute gerettet werden. Alle anderen sind ertrunken. Klar ist der Tod auf den Booten der Flüchtenden immer präsent. Und trotzdem ist es jedes Mal krass, wenn tatsächlich jemand stirbt. Das sind konkrete Menschen, die jetzt nicht mehr da sind. Für mich ist in solchen Situationen der Austausch mit meinem Team in Berlin total wichtig. Für mich bleibt am Ende die Trauer um diese Menschen, aber auch eine Wut auf dieses System, das bewusst jeden Tag Menschen in Lebensgefahr bringt, völlig unnötig, nur für die Idee von der Festung Europa. Das ist auch der Grund, warum ich diese Arbeit mache. Wir versuchen, ein System abzumildern, das für Menschen tödlich sein kann. Aber unser eigentliches Ziel ist ein anderes: Wir wünschen uns den Tag, an dem wir das Alarmphone nicht mehr brauchen, weil es sichere Fluchtwege gibt.

Sie sind normalerweise für die Ägäis zuständig. Was ist da anders als auf dem zentralen Mittelmeer?

Die Ägäis hat diese Spezifik, dass das Meerstück zwischen der Türkei und Griechenland an manchen Stellen nicht mal zehn Kilometer breit ist. Dass da niemand vor Ort ist, ist relativ selten. Für diese geringe Breite gibt es dort relativ viele Küstenwachen- und Frontex-Schiffe. Bis März dieses Jahres war es meistens so, dass ein Boot uns angerufen hat, wir haben die Küstenwache angerufen, die Küstenwache ist hingefahren und hat die Leute eingesammelt. Seit März ist es eigentlich Standard geworden, dass die griechische Küstenwache Boote nicht mehr rettet, sondern hin- und herfährt, Wellen macht, bis das Boot zurücktreibt und von der türkischen Küstenwache aufgegriffen wird. Sie werden also gerettet, aber zurück in die Türkei gebracht. Diese Pushbacks sind illegal. Pushbacks widersprechen der Menschenrechtskommission und geltendem EU- und Seerecht.

Warum März? Wegen Corona?

Es ist eine Mischung aus vielen Faktoren. Einer davon ist sicherlich Corona. Ein anderer ist, dass es im März auf der Insel Lesbos eine Eskalation von rechts gab.

Bewohner und angereiste Rechtsradikale versuchten, Flüchtlinge am Landen auf der Insel zu hindern.

Genau. Unterstützt von lokalen Politiker*innen und Teilen der griechischen Regierung. Durch diese Dynamik und eine nach rechts driftende Stimmung in anderen europäischen Ländern ist eine Situation entstanden, in der es politisch möglich und erwünscht ist, dass Küstenwachen sich so verhalten. Es gibt ja auch deutsche Schiffe, die im Rahmen von Nato- und Frontex-Operationen in der Ägäis unterwegs sind. Mindestens ein Schiff war zugegen, als ein Pushback stattgefunden hat. Und es hat nichts gemacht. Allerdings kann man es bisher nicht nachweisen. Und die Bundesregierung reagiert auf Kritik immer gleich: Wir können nichts sagen, das schadet den Beziehungen zu Griechenland. Und deswegen muss man den Eindruck gewinnen, dass Pushbacks auch politisch gewollt sind.

Sehen Sie noch an anderen Stellen, dass die Politik versucht, die Seenotrettung zu behindern?

Kürzlich gab es eine Veränderung der Schiffssicherheitsverordnung, in der drinsteht, welche Boote wie zugelassen werden können. NGO-Schiffe können sich jetzt praktisch nicht mehr als Sportbootschiffe registrieren. Das heißt, sie müssen sich als kommerzielle Schiffe registrieren, was deutlich mehr Auflagen bedeutet, die für manche kleine NGOs nicht zu erfüllen sind. So wurden nun auch die beiden Beobachtungsboote von Mare Liberum festgesetzt. Dahinter steht eine politische Idee: Es den Schiffen schwer zu machen, sich zu registrieren und damit in See zu stechen und Leben zu retten.

Drei Seenotrettungsschiffe werden derzeit in Häfen festgehalten, die Sea-Watch 3 bereits seit einem Jahr.

Mit fadenscheinigen Begründungen. Also die Schiffe sind alle seetüchtig und erfüllen die Sicherheitsstandards. Also das ist natürlich eine ganz deutliche Art, irgendwie die Seenotrettung zu kriminalisieren oder zu verhindern.

Was bedeutet es vor diesem Hintergrund für die Seenotrettung, dass mit der »Louise Michel« jemand wie Banksy ein Schiff bezahlt und sich auch öffentlich dazu bekennt?

Ich bin nicht überzeugt, dass es einen Unterschied macht, ob das Schiff von einem Künstler bemalt ist oder nicht. Aber ich denke schon, dass Banksy mit seiner Bekanntheit das Thema pusht und nochmal mehr Öffentlichkeit erreicht. Jeder, der Geld in die Seenotrettung steckt, ist willkommen.
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