- Politik
- Flüchtlingspolitik
Abstoßendes Gerede um die Sogwirkung
Kommunen in Deutschland sind längst bereit zu tun, wozu sich die Bundesregierung nicht entschließen kann: Die Menschen aufzunehmen
»Ich kann das Gerede um den Pull-Effekt nicht mehr hören. In Europa leben wir vergleichsweise gut und in Frieden, in ganz vielen Ländern ist das mitnichten der Fall, und in einer globalisierten Welt weiß man um dieses Gefälle. Daraus entsteht der Pull-Effekt und nicht daraus, dass man Menschen in Not hilft.« Damit reagierte Caritas-Präsident Peter Neher auf eine Journalistenfrage der »Neuen Osnabrücker Zeitung« nach der Sogwirkung, die eine Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland angeblich entfaltet. Besonders Politiker der Unionsparteien führen diese immer wieder ins Feld und begründen mit ihr nun auch, warum hier keine hohe Zahl von Menschen aus dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos aufgenommen werden dürften.
Menschen, die sich auf die Flucht begeben haben, dürften womöglich nicht unbeeinflusst sein von den Gerüchten, die über mögliche Aufnahmeländer zu ihnen dringen, aber den Grund für ihren Aufbruch bilden diese kaum. Auch für jene rund 70 Menschen nicht, deren Boot am Montagabend rund 22 Kilometer vor Kreta kenterte. Vier Ertrunkene fand die Küstenwache, darunter zwei Kinder, doch könnte es mehr Opfer geben. Denn 14 Menschen wurden noch Stunden nach dem Unglück vermisst. 57 seien aus dem Wasser gerettet worden, berichtete der griechische Staatsrundfunk am Dienstag.
Wenig beeindruckt zeigt sich die Debatte in Deutschland von solchen Meldungen. Und besonders kritisiert die AfD die angebliche Neigung der Bundesregierung zu unkontrollierter Aufnahme von Flüchtlingen. Und über die Warnung vor einem Pull-Effekt hinaus triefen die Stellungnahmen von Bundestags-Fraktionschef Alexander Gauland oder Bundesparteivize Stephan Brandner von Zynismus. Eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria schaffe »weitere Anreize, Flüchtlingslager weltweit in Brand zu stecken und so ein Ticket nach Deutschland zu erpressen«, ließ Letzterer sich hierzu vernehmen.
Doch selbst AfD-Mitglieder können zuweilen nicht anders, als dem Gebot der Vernunft zu folgen; so stimmten zwei von ihnen im Kreistag Erlangen-Höchstadt für eine Beschlussvorlage, in der es heißt: »Wir pflichten den Ausführungen des Entwicklungshilfeministers Gerd Müller bei. Hilfe kann nicht warten bis in Europa Einstimmigkeit hergestellt ist.« Der Beschluss fiel einstimmig.
Gerade in Kommunen wächst die Bereitschaft, Menschen aufzunehmen, auch über das von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) genehmigte und damit rechtlich entscheidende Maß hinaus. Die Bundesländer Berlin und Thüringen, die sich zur Aufnahme von Menschen über die von der Bundesregierung bewilligten Größenordnungen hinaus bereiterklärt haben, wollen diese gesetzliche Fessel über eine Initiative im Bundesrat lösen. Man suche noch die Unterstützung von Rheinland-Pfalz und Hamburg für eine grundlegende Änderung der Flüchtlingspolitik, hieß es am Dienstag. Die Bundesländer könnten sich dabei auch auf Institutionen wie den Deutschen Städtetag berufen. Der forderte am Dienstag von der Bundesregierung eine »mutige Entscheidung« zur Aufnahme weiterer Schutzsuchender. Städtetagspräsident Burkhard Jung sagte der Deutschen Presse-Agentur: »Viele deutsche Städte stehen bereit, sofort Menschen aus Moria aufzunehmen. Es geht hier um eine akute Notlage. Deshalb dürfen wir nicht zögern.«
Am Morgen trafen 109 Flüchtlinge aus Griechenland am Flughafen Hannover ein, darunter 26 kranke Kinder, wie das Bundesinnenministerium in Berlin mitteilte. Sie waren schon in den vergangenen Wochen aus den Registrierlagern der Inseln im Osten der Ägäis nach Athen gebracht worden und gehören zu einem Kontingent über 1600 Personen, auf das sich mehrere EU-Länder vor Monaten geeinigt hatten. Deutschland nimmt 243 kranke Kinder sowie deren Kernfamilien aus griechischen Flüchtlingslagern auf. Den Menschen auf Lesbos hilft das nicht.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.