Überfällig und doch nicht genug

Phillip Becher hält das Verbot der Reichsfahne für überfällig

  • Phillip Becher
  • Lesedauer: 3 Min.

Bremen ist vorne. Das ärmste der »alten« Bundesländer, das häufig das traurige Schlusslicht beim Blick auf die ungleiche Entwicklung der Lebensverhältnisse in Deutschland bildet, hat sich mit einem Erlass seiner Innenbehörde zumindest unter einem politischen Gesichtspunkt an die Spitze katapultiert. Hierbei wird der Stadtstaat den entschieden progressiven Gehalten seiner Landesverfassung in entschiedener Weise gerecht. Dort wird der Aufbau einer gesellschaftlichen Ordnung anvisiert, »in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden« und »in der der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung« zu schützen ist. Daher ist es konsequent, dass die 1866 erstmals vom damaligen preußischen Ministerpräsidenten Bismarck ersonnene und später zur Reichsfahne avancierte schwarz-weiß-rote Flagge ausgerechnet in der Hansestadt zuerst verboten worden ist. Die Flagge sorgte zuletzt auf den Anti-Corona-Demos für Schlagzeilen.

Es waren diese Farben, in die die Ideologen des deutschen Militarismus ihre Propaganda zur Vorbereitung des ab 1914 versuchten imperialistischen Griffs nach der Weltmacht kleideten. Es waren eben diese Farben, um die sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und nach der Novemberrevolution konservative und faschistische Gegner der Weimarer Republik scharten, zumal sie die neuen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold als durch die Ideen der demokratischen Revolution von 1848 »verunreinigt« sahen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Schwarz-Weiß-Rot auch für die NSDAP, die schließlich den antidemokratischen Bestrebungen der reaktionärsten Gruppierungen innerhalb der Klasse der politisch und ökonomisch Herrschenden Deutschlands die radikalste Gestalt verleihen sollte, eine bedeutende Rolle spielte: Der Nazi-Propagandist Hans Fritzsche erklärte rückblickend 1946 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, dass die Hakenkreuzfahne eben auch als »eine Kombination, eine neue Form der Farben Schwarz-Weiß-Rot« gedeutet werden konnte.

Umgekehrt wurde die alte Reichsfahne nach der Befreiung vom Faschismus 1945 und dem Verbot der offenkundigsten NS-Symbolik aber wiederum zur Standarte der Reaktion – und dies immer häufiger auch ohne die noch während der Zwischenkriegszeit vernehmbare pro-monarchistische Note. Laut einer repräsentativen Umfrage fühlte sich laut Eigenauskunft im restaurativen Klima Westdeutschlands Anfang der 1960er Jahre immerhin jeder zehnte Befragte positiv mit Schwarz-Weiß-Rot verbunden. Diese Werte dürften bei einer möglichen Wiederholung einer solchen Erhebung heute deutlich geringer ausfallen. Und so darf kritisch gefragt werden, ob mit dem inhaltlich richtigen – angesichts der hier bloß skizzierten Geschichte längst überfälligen – Schritt zum Verbot der alten Reichsfahne tatsächlich mehr erreicht wird, als dem Narrensaum eine Reliquie zu entreißen.

Denn: Das Verbot von antidemokratischen Symbolen ist richtig, bleibt aber Kosmetik und verkommt selbst zur reinen Symbolpolitik, wenn es sich nicht einfügt in eine antifaschistisch-demokratische Gesamtstrategie. Diese Strategie muss von der Erkenntnis ausgehen, dass die heutige AfD als rechtspopulistische Sammlungspartei mit Scharnierfunktion hin zu offen faschistischen Kräften in einem ganz anderen Look daherkommt als die altbekannten Nazis – und sie beispielsweise über mächtige Freunde und Helfer (nicht nur) in den Staatsapparaten verfügt, die einen reaktionären Staatsumbau anvisieren und die Frage des Staatswappens als bestenfalls randständigen Gesichtspunkt betrachten.

Das Tragen von Schwarz-Weiß-Rot ist also ein möglicher, unappetitlicher Ausdruck für an die Oberfläche dringende gesellschaftliche Rechtstendenzen. Die in der bremischen Landesverfassung geforderten Zielstellungen sind aber nicht bloß Verpflichtung, dieser Art von Symbolik, die die Opfer von Krieg und Terror verhöhnt, Einhalt zu gebieten. Sie könnten zugleich als programmatische Richtschnur für eine noch zu erstreitende Politik dienen, mit der die gesellschaftlichen Wurzeln von Rechtsentwicklungen gekappt werden.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.