Nichts gewusst, nichts geglaubt
In Prozess und Untersuchungsausschuss zum Halle-Anschlag erscheint die Polizei in keinem guten Licht.
Welche Fehler haben die Sicherheitsbehörden im Zuge des Anschlag vom 9. Oktober 2019 begangen? Diese Frage stellt sich nach den Verhandlungstagen 14 und 15 im Prozess gegen Stephan B. einmal mehr. In dieser Woche ging es vor dem Landgericht Magdeburg unter anderem um das Geschehen nach der Flucht des Attentäters aus Halle. Es kamen mehrere Zeugen aus Wiedersdorf zu Wort, wo B. stoppte, weil er sich ein neues Auto stehlen wollte, da er zuvor die Reifen seines Mietwagens zerschossen hatte. Die Berichte der Menschen, die von Stephan B. bedroht und teilweise schwer verletzt wurden, deuten zum Teil auf ein sehr zögerliches polizeiliches Vorgehen hin.
So die Aussagen eines Ehepaars: Es habe am Hoftor geklopft und er habe in eine Pistole geblickt, sagte der 52-jährige Mann. Der Täter habe den Schlüssel für ein geparktes Auto gefordert. Der Zeuge berichtete, dass der Attentäter auf ihn geschossen habe, als er weggelaufen sei.
Seine Frau schilderte, wie sie wegen eines Geräuschs auf den Hof geeilt und ebenfalls von einem Schuss getroffen worden sei: »Mein Mann war voller Blut, ich wollte auf ihn zulaufen, als ich, platsch, hingefallen bin, dann konnte ich nicht mehr aufstehen und dann habe ich ihn gesehen«, sagte die 51-Jährige aus. Der Täter sei ihr in diesem Moment ganz nah gewesen. »Er hat rumgejammert«, sagte sie, »wie so ein Weichei.«
Als der Angreifer dann ohne Schlüssel vom Hof gegangen sei, habe sie die Polizei gerufen. Doch der Mann am Notruf habe ihr nicht geglaubt, berichtete die 51-Jährige. Es sei zunächst nur ein einzelner Beamter gekommen und habe bei ihrer beider Anblick gerufen: »Ach du Scheiße!« Erst danach seien ein Hubschrauber für ihren Mann und ein Krankenwagen für sie eingetroffen.
Auch der Untersuchungsausschuss des Landtags Sachsen-Anhalt, der sich mit dem Polizeieinsatz am Tag des Anschlags beschäftigt, kam in dieser Woche zusammen und brachte neue Erkenntnisse zum Verhalten der Polizei hervor. Zur Erinnerung: Die Synagoge war am Tag des Anschlags unbewacht. Im Untersuchungsausschuss wurde nun ersichtlich, dass auch die Beamten in Magdeburg und Dessau die Lage offenbar völlig falsch einschätzten.
Einem Medienbericht zufolge sagten führende Polizeibeamte aus Magdeburg und Dessau, die dortigen jüdischen Gemeinden hätten nicht um besonderen Schutz gebeten. Auch habe keine besondere Gefahrenlage bestanden, antisemitische Straftaten in Sachsen-Anhalt hätten im einstelligen Bereich gelegen. Außerdem sei der Feiertagskalender der jüdischen Gemeinden den Polizeibehörden nicht oder nur teilweise bekannt. Ebenso hätten sie von einer generellen Empfehlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aus dem Jahr 2017, jüdische Einrichtungen zu schützen, nichts gewusst.
Zuvor hatten bereits Vertreter der Polizei Halle im Untersuchungsausschuss gestanden, von der Jom-Kippur-Feier nichts gewusst zu haben. »Bereits heute deutet sich an, dass Maßnahmen zur Stärkung der interkulturellen Kompetenz der Polizei notwendig sind«, sagte der Ausschuss-Vorsitzende Sebastian Striegel (Grüne) auf »nd«-Anfrage. Gleichwohl gebe es durchaus Hinweise, dass die OSZE-Empfehlung bei der Polizei bekannt gewesen und in die polizeiliche Aus- und Fortbildung integriert worden sei. Eine abschließende Bewertung, so Striegel, werde es erst nach Ende der Beweisaufnahme im Januar geben. Mit Agenturen
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