- Kommentare
- Rechtsextremismus
»Einzelfälle« die verunsichern
DER FEIND STEHT RECHTS: Stephan Anpalagan fragt sich, warum die Rechtsextremismusfälle in Behörden nicht genug aufgeklärt werden
Es ist noch nicht so lange her, da antwortete ein deutscher Bundesinnenminister auf die Frage nach einer konkreten Gefährdungssituation mit den Worten: »Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern«. Es ging dabei um die Absage eines Fußball-Länderspiels und um eine mutmaßliche Gefährdungslage, von der allerdings niemand so genau wusste, worauf sie zurückzuführen wäre. Was das für eine Gefahr sei, wie konkret sie wäre, ob sie auf politisch motivierte Kriminalität, Terrorismus oder Hooligans zurückzuführen sei, das wollte der Innenminister nicht sagen. Vielleicht auch, weil er es selbst nicht so genau wusste. Vielleicht auch, weil er es wusste und die Antwort ihm nicht so recht in den Kram gepasst hat. Seine Haltung erklärt er so:
»Ich bitte die deutsche Öffentlichkeit um einen Vertrauensvorschuss gegenüber mir und den Sicherheitsbehörden. Dass wir gute Gründe hatten, bittere Gründe das so zu entscheiden. Dass es aber nicht weiter hilft die Einzelheiten jetzt so darzulegen, dass ihre verständliche Neugier befriedigt wird.«
Antworten, die die Bevölkerung verunsichern würden. Vertrauensvorschuss gegenüber Innenministerium und Sicherheitsbehörden. Eine Öffentlichkeit, die verständlicherweise mehr wissen möchte.
Mittlerweile ist der Innenminister auch ein Heimatminister, nennt sich Horst Seehofer und hat ein Problem. Früher waren die offiziellen Gefährdungslagen deckungsgleich mit der politischen Haltung von Innenminister, Sicherheitsbehörden und Nachrichtendiensten: Gefährlich waren die Linken, die Ausländer*innen, die Muslim*innen. Ungefährlich hingegen alle anderen. Nazis zum Beispiel. Oder Polizist*innen. Oder Nazis, die auch gleichzeitig Polizist*innen sind. Letzteres hat sich allerdings als eine staatsgefährdende Bedrohung entpuppt:
Polizistinnen waren tief in die terroristischen Umtriebe des NSU verstrickt, Polizisten waren tief in die terroristischen Umtriebe der »Gruppe Freital« verstrickt, Polizist*innen gründeten gar eigene Terrororganisationen wie »Nordkreuz«, »Hannibal«, »Gruppe S.«, auf dem Telefon eines der mutmaßlichen Mörder von Walter Lübcke fand man polizeiinterne Dokumente, unter der Bezeichnung NSU 2.0 scheint sich ein terroristisches Netz quer durch alle Polizeidienststellen dieser Republik zu spinnen. Und dann sind da die vielen menschenverachtenden, strafrechtlich relevanten, weil volksverhetzenden Inhalte, die man immer wieder in internen Chatgruppen, auf privaten und dienstlichen Telefonen und Computern von Polizist*innen auffindet.
Wer vertraulich mit Polizist*innen und Kriminalbeamten spricht, erfährt schnell: Das alles ist nur die Spitze des Eisbergs, in den nächsten Monaten werden noch deutlich mehr und deutlich unappetitlichere Fälle ans Tageslicht kommen.
Spätestens an diesem Punkt sollte man die »Neugier« der Öffentlichkeit nicht nur als berechtigtes Interesse, sondern als wesentlichen demokratischen Baustein einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verstehen, die nicht aus Sensationslust, sondern aus ehrlicher Betroffenheit wissen möchte, was in ihren Sicherheitsbehörden eigentlich los ist. In welcher Form diese überhaupt noch fähig und willens sind, unsere Verfassung und die Bürger*innen in unserem Land zu verteidigen - auch und vor allem solcher, die nicht so aussehen, wie man sich vor 77 Jahren noch »echte« Deutsche vorgestellt hat.
Wie viele Fälle von Rassismus und Rechtsextremismus gibt es innerhalb der Sicherheitsbehörden überhaupt? In der Bundespolizei, in den Landespolizeien, in den Kriminalämtern, in den Nachrichtendiensten? In welcher Form wurden diese Fälle aufgedeckt, nachverfolgt, zur Anklage gebracht, verurteilt? In welcher Form spielt die Ausbildung, die Weiterbildung, spielen Kultur und Organisation innerhalb der Polizei eine Rolle, wenn sich Polizist*innen radikalisieren? Warum hat man in den vergangenen 70 Jahren nichts getan? Auch nachdem man historisch nachgewiesen hatte, dass die ersten Führungskräfte in Polizei, Kriminalämtern und Nachrichtendiensten stramme Nazis waren? Auch nachdem klar wurde, dass Polizist*innen in Norddeutschland Menschen foltern, dass Polizist*innen in Ostdeutschland Menschen anzünden?
Auf alle diese Fragen gibt es keine Antworten und keine glaubwürdige Auseinandersetzung innerhalb der Sicherheitsbehörden selbst. Es gibt keine verlässlichen Fallzahlen, keine Analyse der regionalen Verteilung oder der Vernetzung.
All das muss die Zivilgesellschaft selbst tun, viele der schwerwiegenden Fälle wurden erst durch journalistische Recherchen öffentlich, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff »Einzelfall« hat eine Gruppe von Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und Rechtsextremismusexpert*innen mit dem Namen »Stay Behind Foundation« angestoßen, die schlicht alle »Einzelfälle« auf einer Landkarte eingezeichnet hat. Um zu verdeutlichen, wie ausgeprägt, vernetzt und deutschlandweit diese »Einzelfälle« mittlerweile stattfinden. Je nach Blickwinkel ist die gesamte Deutschlandkarte voller »Einzelfälle«.
Die Aussage des Bundesinnenministers der davon spricht, dass 99% aller Beamten »fest zum Grundgesetz stehen« würden, ist sowohl Stoßgebet als auch ein Schuss ins Blaue. Allein die erhärteten Verdachtsfälle der vergangen Jahre entlarven das Gerede von den »99%« als Lüge. Wie hoch der Anteil tatsächlich ist, weiß Horst Seehofer nicht und er möchte es auch nicht herausfinden. Denn eines ist ihm klar. »Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern«.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!