Privatsektor kassiert rücksichtslos weiter

Jürgen Kaiser über die Notwendigkeit eines Schuldenerlasses mit Beteiligung der privaten Gläubiger

  • Lesedauer: 5 Min.

Weltbank-Chef David Malpass befürchtet, dass die Corona-Pandemie in armen Staaten eine neue Schulden- und Finanzkrise auslösen könnte. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja. Es ist nicht nur eine Befürchtung, sondern die Krise ist schon Realität. Es gibt bereits Länder wie Sambia, die infolge der Coronakrise in die Zahlungsunfähigkeit gerutscht sind, wie Sambia. Weitere werden folgen. Dass der Weltbank-Chef Malpass und die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) Kristalina Georgiewa jetzt einen alarmistischen Ton anschlagen, ist mehr als gerechtfertigt.

Jürgen Kaiser

Den studierten Geograf und Regionalplaner lässt die Schuldenproblematik des Globalen Südens seit der von massiven Protesten begleiteten legendären IWF/Weltbank-Tagung 1988 in Westberlin nicht mehr los. Er arbeitet als politischer Koordinator beim Entwicklungsbündnis erlassjahr.de, das sich für Entschuldungsinitiativen einsetzt. Über Initiativen für die Schuldner auf der Herbsttagung sprach mit ihm Martin Ling.
 

Als Reaktion auf die Corona-Pandemie boten die G20 im April den 73 am wenigsten entwickelten Ländern die zeitweilige Aussetzung ihres Schuldendienstes gegenüber den G20 sowie allen Mitgliedern des Pariser Clubs, eines Zusammenschlusses von Gläubigerstaaten, an. Ziel dieser Debt Service Suspension Initiative (DSSI) war es, vor Ort Mittel zur Eindämmung der Corona-Pandemie freizusetzen. Wie gut hat das vorläufig geklappt?

Die Freisetzung der Mittel hat leidlich funktioniert. 46 Länder haben das Angebot angenommen, elf Länder haben es nach unseren Informationen abgelehnt, und der Rest hat sich noch nicht geäußert. Diejenigen, die die Offerte angenommen haben, haben durchaus fiskalische Spielräume gewonnen, um Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie zu finanzieren. Darunter sind sehr kleine Länder, aber auch ziemlich große wie Pakistan und Angola. Das hat im Ansatz gut funktioniert. Die Frage ist, wie geht es weiter.

Wie lässt es sich erklären, dass elf Länder auf das Entgegenkommen mit der Stundung des Schuldendienstes verzichtet und 19 noch nicht reagiert haben?

Es gibt zwei Gründe dafür - der eine ist nachvollziehbar, der andere überhaupt nicht. Der nachvollziehbare Grund ist, dass es unter den 73 ärmsten Ländern welche gibt, die kein dramatisches Schuldenproblem haben. Arm heißt nicht zwangsläufig überschuldet, der Maßstab für Armut ist das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen. Unter den 73 Ländern gibt es Staaten mit wenig Schulden oder mit wenig Schulden gegenüber den G20. Die hielten die Schuldenstundung für wenig hilfreich und verzichtbar.

Aber es gab auch Länder, die aktiv von privaten Akteuren eingeschüchtert wurden. Sehr aktiv war die Ratingagentur Moodys, die mit Herabstufung der Kreditwürdigkeit drohte bei Annahme der Schuldendienststundung. Herabstufung der Kreditwürdigkeit bedeutet höhere Refinanzierungskosten am Kapitalmarkt. Dabei ist das offenkundig widersinnig: Durch die Stundung werden ja Mittel frei, die Zahlungsfähigkeit gestärkt und damit mithin theoretisch die Kreditwürdigkeit.

Dennoch haben die Drohungen bei manchen Ländern verfangen. Ein prominenter Fall ist Kenia, das mit 802 Millionen US-Dollar, was rund 0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht, eines der Länder wäre, welche absolut und relativ am stärksten von dem Moratorium hätten profitieren können. Bereits Mitte Mai teilte Finanzminister Yatani mit, man werde die DSSI-Initiative nicht in Anspruch nehmen, um nicht das eigene Rating durch die großen Agenturen zu gefährden.

Laut Schuldenreport 2020 waren 124 von 154 untersuchten Entwicklungs- und Schwellenländern kritisch verschuldet. Dass sich durch die Folgen der Corona-Pandemie die Lage verschlechtert hat, liegt auf der Hand. Gibt es belastbare Zahlen?

Nein. Die Zahlen aus dem Schuldenreport 2020 konnten noch nicht auf valider Basis für alle Länder aktualisiert werden. Derzeit analysieren wir bei erlassjahr.de die Schuldentragfähigkeitsanalysen für unterschiedliche Länder, die vom IWF sukzessive herausgebracht werden. Die Tendenz ist ziemlich klar: Durch den globalen Wirtschaftseinbruch, von dem ein Teil der Schuldnerländer überproportional betroffen ist, gehen die Schuldenindikatoren dramatisch in die Höhe. Aber exakte Zahlen liegen flächendeckend noch nicht vor.

Die G20-Finanzminister haben am Mittwoch wegen der Corona-Pandemie den Schuldenaufschub für die Entwicklungsländer um ein halbes Jahr verlängert. Reicht das?

Es wurde nur die Verlängerung des Schuldendienstmoratoriums DSSI beschlossen. Das ist insofern eine Enttäuschung, als im März gesagt wurde, dass schon im Oktober über mehr als ein Moratorium, eben über einen Schuldenerlass verhandelt werde. Auf einen Schuldenerlass konnten sich die G20 leider noch nicht einigen. Die Verhandlungen darüber wurden nun auf ein außerordentliches Finanzministertreffen im Vorfeld des G20-Gipfels am 21./22. November vertagt. Damit haben die G20 eine wichtige Chance für eine zeitige Entschärfung der Schuldenkrise verpasst.

Beim Schuldenmoratorium waren die privaten Gläubiger komplett außen vor. Jakob von Weizsäcker, der Chefvolkswirt des Bundesfinanzministeriums, sprach von technischen Gründen. Nachvollziehbar?

Es sind weniger technische als vielmehr juristische Gründe. Die G20 haben sich nicht getraut, die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, dass sich die privaten Gläubiger an dem Moratorium beteiligen müssen, wie die flammenden und tränenreichen Appelle der G20 auf freiwilligen Verzicht an den Privatsektor es vorgesehen hatten. Die G20 müssen diesen Fehler spätestens im November korrigieren, weil diese Ungleichbehandlung der Gläubiger den Prozess der Entschuldung im hohen Maße delegitimiert. Jakob von Weizsäcker hat das auf den Punkt gebracht: Der öffentliche Sektor verzichtet, der private Sektor kassiert einfach weiter. Das kommt in der Öffentlichkeit sehr schlecht an.

Was erwarten Sie von der Bundesregierung bei der Herbsttagung? Eigeninitiative oder Verstecken hinter der EU?

Die Neigung sich zu verstecken ist ungebrochen. Da hat sich nicht so viel verändert, wie wir gerne hätten. Wir würden uns wünschen, dass die Bundesregierung Initiativen aufnimmt, wie sie jetzt zum Beispiel aus dem Globalen Süden kommen wie aus Pakistan. Der Druck aus Pakistan hat ganz entscheidend mitgeholfen, dass es im Frühjahr zum Moratorium DSSI gekommen ist. Oder die Bundesregierung könnte eine Erklärung zur besonderen Situation von über 40 kleinen Inselstaaten unterstützen, die vom Tourismus oder von wenigen Exportprodukten abhängig sind. Die haben öffentlich erklärt, dass sie die Folgen des Wirtschaftseinbruchs durch Corona in Kombination mit den Folgen des Klimawandels nicht alleine stemmen und Schuldenerleichterungen erbeten.

Was ist das Minimum, was bei der Herbsttagung aus Sicht der Schuldnerländer passieren müsste?

Eigentlich müssten zwei wichtige Entscheidungen fallen. Erstens Schuldenerlassmöglichkeiten auf der Grundlage, wo es Erlassbedarf gibt und nicht wie bis jetzt auf der Grundlage, wer klein und arm ist. Staatliche Überschuldung ist keine Frage der Größe oder des Pro-Kopf-Einkommens eines Landes. Zweitens sollte es bei Überschuldung umfassende Verhandlungen mit allen Gläubigern geben. Und es muss dabei um echte Schuldenerlasse gehen. Alles andere verschärft die Schuldenkrise untragbar. Doch vor dem außerordentlichen Finanzministertreffen der G20 im November wird das nicht passieren.

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