»Mein Soll an Krisen ist aktuell erfüllt«

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) über die Pandemie, linkes Regierungshandeln und seine Bilanz von Rot-Rot-Grün

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 10 Min.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) in seinem Büro im Roten Rathaus.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) in seinem Büro im Roten Rathaus.

Die Pandemiebekämpfung dominiert die Regierungsarbeit. Der Infektionsschutz wird vor allem über Verordnungen durchgeführt. Wie hat das Ihre persönliche Arbeit in den letzten Monaten verändert?

Michael Müller

Der SPD-Politiker ist seit 2014 Regierender Bürgermeister von Berlin und führt aktuell noch den Landesverband der SPD. Zum Monatsende will Müller aber den Landesvorsitz in der Hauptstadt abgeben. Perspektivisch will der 55-Jährige aus der Landespolitik in den Bundestag wechseln. Über die Auswirkungen der Coronakrise auf die Metropole Berlin und die Arbeit der rot-rot-grünen Senatskoalition in den vergangenen vier Jahren sprach mit ihm Martin Kröger.

Sie sagen es, es dominiert den Arbeitsalltag. Von morgens bis abends beherrscht Corona den Tag. Es gibt kaum mehr Abendtermine. Keine Veranstaltungen, kaum Eröffnungen, ich halte nur selten noch mal ein Grußwort. Das alles hat sich völlig verändert.

Veränderungen verspüren auch die Berlinerinnen und Berliner, etwa durch die von Rot-Rot-Grün erlassene Sperrstunde. Das Verwaltungsgericht hat diesen Baustein Ihrer Eindämmungsverordnung gekippt? Was nun?

Wir haben dagegen eine Beschwerde eingelegt. In der Senatssitzung an diesem Dienstag werden wir alles Weitere besprechen. Die Situation in der Gastronomie bleibt auf der Tagesordnung.

Als Senat üben Sie aus unserer Sicht über die Verordnungen große Macht aus, das dürfte Ihre Arbeit auch verändert haben. Muss das Abgeordnetenhaus nicht stärker eingebunden werden?

Verordnungen laufen immer über die Regierungen und den Senat - unabhängig von Corona. Parlamentarier beraten Gesetze. Ungeachtet dieses formalen Weges sind wir in einem engen Austausch mit dem Parlament. Das, was wir im Senat beschließen, muss politisch von den Koalitionsfraktionen getragen werden, deren Vorsitzende an unseren Sitzungen teilnehmen. Wir sind auch in regelmäßigen Rücksprachen mit der Opposition und dem Ältestenrat. Hier darf es kein Gegeneinander geben, die Pandemie ist nur in einem Miteinander zu bewältigen.

Zuletzt war es um das Miteinander in der Koalition nicht gut bestellt. Vizesenatschef Klaus Lederer (Linke) erklärte im Interview mit »nd« - und zwar mit Blick auf die zuständige Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) -, dass angesichts des erwartbaren Szenarios keine Vorkehrungen getroffen wurden, die getroffen hätten werden müssen. Der Sommer sei nicht genutzt worden, um Raum- und IT-Kapazitäten aufzubauen, damit Personal zur Eindämmung eingesetzt werden kann. Beschuldigt sich Rot-Rot-Grün jetzt gegenseitig?

Ich sehe das anders. Diese Koalition hat während der letzten Monate sehr konstruktiv miteinander gearbeitet, daran hat die Gesundheitssenatorin einen sehr großen Anteil. Wir schaffen es nur gemeinsam und haben auch viel hinbekommen im vergangenen halben Jahr. Aber natürlich könnte es noch besser laufen. Alle Verwaltungen stehen in der Pflicht, dass wir noch schneller vorankommen. Sich gegenseitig zu beschuldigen ist nicht klug, wenig hilfreich und kontraproduktiv. In dieser Form sollten wir nicht diskutieren.

Die zweite Welle läuft. Dennoch sagen Sie, dass der Senat über den Sommer seine Hausaufgaben gemacht hat?

Ganz eindeutig. Wir haben - erstens - niedrige Infektionszahlen gehabt, wir haben - zweitens - bis heute eine hohe Akzeptanz für unsere Maßnahmen. Der Bund hat nicht zufällig zuletzt fast eins zu eins die Regeln des Landes Berlin aufgegriffen. Insofern fühle ich mich in unserem Weg sehr bestätigt, auch was die Gesundheitsvorsorge wie den Aufbau von Krankenhauskapazitäten angeht. Trotz aller Erfolge werden wir aber auch in Berlin nachjustieren müssen.

Die hohen Steigerungen zeigen, dass das Infektionsgeschehen diffuser wird. Hat das zur Folge, dass Sie Ihre Eindämmungsstrategie verändern müssen?

Die Welle wird größer, aber bislang können wir noch sehen, dass insbesondere die 20- bis 40-Jährigen betroffen sind. Auch die Hauptansteckungsmöglichkeiten sind bekannt, das sind große wie kleine Feiern, Partys und private Veranstaltungen wie zum Beispiel Hochzeiten. Darauf müssen wir weiter gezielt reagieren. Bei anderen Situationen wie in Theatern, im Einzelhandel bis hin zum Öffentlichen Personennahverkehr hat man dagegen mit Abstandsregeln und Maskenpflicht gute Maßnahmen getroffen, die Infektionen verhindern. Dort, wo Alkohol konsumiert wird, wo Menschen eng zusammenkommen, ob in Parks, vorm Späti oder zu Hause, gehen die Infektionszahlen hoch, weil nicht mehr auf Regeln geachtet wird.

Reichen Appelle an die Vernunft noch aus? Oder werden Sie restriktiver vorgehen?

Offensichtlich reichen Appelle nicht mehr aus. Als Politiker kommt man an Grenzen: Wir haben Fernseh- und Radioansprachen gehalten, Briefe an jeden Haushalt geschickt, beinahe jeden Tag eine Pressekonferenz oder ein Interview zu diesem Thema gegeben und informiert. Oft flankiert von den Aussagen von Virologen und Medizinern, also Experten, die uns beraten. In allen Zeitungen wird über Lockdown-Beschlüsse in anderen Ländern berichtet. Wenn dann einige immer noch ihr persönliches Wohl und ihren Egoismus voranstellen und nicht den Schutz und die Solidarität aller, dann wird man doch wieder stärker über Regeln und Restriktionen reden müssen.

Sie haben bekundet, dass Sie in die Politik gegangen sind, um Krisen zu meistern. Sind Sie noch gerne in der Politik, wenn Sie Sperrstunden und Quasi-Ausgangssperren verhängen müssen?

Mein Soll an Krisen ist aktuell erfüllt. Vom BER über Flüchtlingskrise bis Breitscheidplatz und jetzt Corona - das alles in einer Amtszeit. Es geht hier momentan im wahrsten Sinne des Wortes um Menschenleben. Und wir konnten mit unserem Weg bisher vielen Menschen helfen. Das zu tun, ist eine Aufgabe, die ich sehr ernst nehme und für die man auch Politiker wird.

Vor der Coronakrise war Ihre Aufgabe nicht auf eine Krisenbewältigung fokussiert, sondern auf die Führung der rot-rot-grünen Koalition in Berlin. Nach dem sehr schlechten Start und inzwischen vier Jahren - wie ist es aus Ihrer Perspektive gelaufen mit Linken und Grünen?

Gut. Ich fühle mich aber auch bestätigt mit dem, was ich zu Beginn der Legislaturperiode gesagt habe: Es ist nicht einfach in einem Dreierbündnis. Wir hatten keine Blaupause, es ist schwer zu führen. Wir waren in dieser Konstellation unter Führung der SPD bundesweit die ersten, die in einer solchen Koalition zusammengefunden haben. Trotz vieler Gemeinsamkeiten sind wir konkurrierende Parteien, das zeigte sich im schwierigen ersten Jahr. Aber wir haben miteinander viel geschafft. Und damit meine ich nicht nur die Pandemie-Situation, sondern ich meine auch viele soziale Dinge, die uns am Herzen lagen, vom kostenlosen Schülerticket oder dem 365-Euro-Azubi-Ticket bis zur verstärkten Kältehilfe und Unterstützung der Obdachlosen. An solchen Punkten kann man festmachen, ob es eine Politik ernst meint mit ihrem sozialen Agieren oder ob sie nur auf die Titelseiten schielt.

Den Mietendeckel, der die Mieten unter anderem auf fünf Jahre einfriert, haben Sie gar nicht aufgeführt ...

... Ich habe vieles nicht genannt.

Aber die SPD hat doch die Idee für einen Mietendeckel als Erste öffentlich aufgegriffen. Zählen Sie das nicht zu Erfolgen?

Doch. Der Mietendeckel ist zwar umstritten, es ist nicht klar, was in der juristischen Auseinandersetzung herauskommt. Auf jeden Fall hat der Mietendeckel aber eine Diskussion aufgebrochen, über den Wert von kommunalem Wohnungsbestand zum Beispiel. Auch die Verpflichtung, die Vermieter ihren Mietern gegenüber haben - Eigentum verpflichtet. Die ganze Diskussion über die Frage der Mietbelastung. All das wird bleiben, selbst wenn der Mietendeckel nicht eins zu eins vor Gericht Bestand haben sollte. Rot-Rot-Grün hat da etwas richtig Gutes in Gang gesetzt.

Sie haben einige Krisen aufgezählt, gab es weitere Niederlagen? Dinge, wo Sie sagen, da haben wir richtig kassiert?

Es ist nicht einfach, die Verwaltung zu modernisieren. Und das liegt nicht an den einzelnen Mitarbeitern. Das sind über 100 000, das sind gute und engagierte Leute, die jeden Tag ackern, bis zum Umfallen. Aber die Strukturen sind zäh, verhärtet, die Verantwortlichkeiten zwischen Bezirks- und Landesebene verteilt. Das umfassend zu reformieren ist uns nicht gelungen.

Dabei haben Sie für diesen Bereich sogar einen Extra-Staatssekretär in der Senatskanzlei eingesetzt.

Ja, für die Themen Verwaltung und Infrastruktur.

Der sich darum gekümmert hat.

Er hat mit den Zukunftsprojekten und in den Verhandlungen mit den Bezirken viele Einzelprojekte durch gezieltes Nacharbeiten beschleunigen können. Vor allem in den Smart-City-Projekten ist er sehr erfolgreich. Was ich meine, ist aber, dass grundsätzlich das Verwaltungshandeln transparenter und schneller wird. Dass ganze Strukturen sich verändern. Das muss auf Bezirks- und Landesebene breiter getragen werden.

Beim Thema Digitalisierung hat sich der Senat auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert, oder?

Corona hat uns das deutlich gemacht, dass in Berlin noch einiges zu tun ist. Da geht auf jeden Fall mehr. Aber die Digitalisierung ist eine Milliarden-Investition über viele Jahre.

Der Anspruch am Anfang von Rot-Rot-Grün war, die sozial-ökologische Wende zu vollziehen, die Stadt zum Funktionieren zu bringen, sie bezahlbar zu halten. Es sollte ein bundesweites Vorbild entstehen. Hat es dafür gereicht?

Wir haben gezeigt, dass man unter schweren Bedingungen viel voranbringen kann. Man darf nicht vergessen, auch in dieser Legislaturperiode hatten wir einen exorbitanten Bevölkerungszuwachs, den wir bewältigt haben. Gleichzeitig haben wir die Arbeitslosigkeit reduzieren und zugleich konsolidieren können. Wir haben zusätzliche Bauprogramme wie die Schulbauoffensive auf den Weg gebracht. Das alles macht deutlich, dass Rot-Rot-Grün in einer guten Zusammenarbeit sehr verlässliche, stabile und konstruktive Politik machen kann. Die Grundunterstellung der Opposition, das würde bereits aus der Konstellation heraus nicht gelingen, konnten wir widerlegen.

Das Solidarische Grundeinkommen, Ihren eigenen Vorschlag, erwähnen Sie auch nicht. War der am Ende nicht so wichtig?

Wieso Vergangenheitsform? Das Programm läuft, und das von Monat zu Monat besser. In der Coronakrise ist es sogar ein hilfreiches Instrument, weil Arbeitslose schnell in gute Arbeit kommen. Wir haben zudem gezeigt, dass man neue Arbeitsmarktinstrumente auf den Weg bringen kann und nicht nur an Hartz IV herumdoktern muss. Warten wir es ab, vielleicht steigt der Bund doch noch ein, dann fahren wir das Programm weiter hoch.

Das Programm hat einige Haushaltsmittel beansprucht. Als Sozialdemokrat standen Sie immer für Konsolidierung.

Stehe ich immer noch!

Die Pandemie hat aber alles über den Haufen geworfen.

Dennoch konnten wir uns jetzt in der Coronakrise einiges leisten, weil wir vorher konsolidiert haben. Wir haben zuvor fünf Milliarden Euro Schulden abgebaut. Das verschafft uns jetzt in der Krise den nötigen Spielraum für die Wirtschaft, für die Kultur, auch für die Gastronomie. Wir werden weiter nachsteuern. Aber irgendwann wird es eine finanzielle Grenze geben für den Bund und die Länder. Aber soweit ist es noch nicht.

Ein Jahr hat Rot-Rot-Grün noch. Neben der Krisenbewältigung gibt es ein, zwei Vorhaben, die Sie noch schaffen wollen?

Der Wohnungsbau bleibt das Thema. Dazu kommt die Mietenregulierung. Auch die Reform der Verwaltung muss vorangetrieben werden. Sehr wichtig ist auch die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das bedeutet, einen Platz in der Gesellschaft zu haben, das ist das oberste Ziel von Politik. Das kann mit dem Ausbau der Wissenschaft und Forschung, der Wirtschaft und der Unterstützung von Handel und Handwerkern erreicht werden. Also Wohnen und Arbeit, das sind die herausragenden Themen.

Wann geht der Wahlkampf endgültig los? Die SPD liegt weiter hinter ihren eigenen Ansprüchen zurück. Kommt jetzt die Abteilung Attacke?

Das ist eine Frage an die neue Spitze der Berliner SPD, die aller Voraussicht nach Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und der Fraktionsvorsitzende Raed Saleh bilden werden. Mein Eindruck ist, dass die Leute eine seriöse Krisenbewältigung erwarten. Der richtige Wahlkampf wird wohl ab Ostern beginnen.

Sie sagen, Sie bleiben bis zum Ende der Legislatur. Angesichts der miesen Umfragewerte, ziehen Sie die Staffelübergabe an eine Nachfolgerin vor?

Das würde ja bedeuten, dass die Situation der SPD von einer Person abhängt.

Es gibt Leute, die so etwas unken.

Erstens bin ich für diese Legislatur gewählt und diese Aufgabe werde ich auch erfüllen. Zweitens gibt es da auch ein paar technische Dinge zu berücksichtigen. Es müsste ein neuer Regierender oder eine neue Regierende gewählt werden. Dafür müsste man eine Mehrheit im Parlament finden, die im Moment nicht zu sehen ist. Drittens glaube ich, haben sehr viele Menschen verstanden, dass die Situation, in der sich die SPD seit Jahren befindet - im Übrigen in allen Bundesländern, der Bundesebene und auch in Berlin -, nicht an einer Person festzumachen ist, weder an Michael Müller noch an Olaf Scholz oder Andrea Nahles. Sondern das ist ein Gesamtkunstwerk.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!