Vergessen und wiederentdeckt

Hunderte jüdische Sakralbauten in Deutschland haben Krieg und Pogrome überstanden, aber nicht die Ignoranz der Nachkriegsgesellschaft.

  • Fabian Goldmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Fast 100 Jahre hatte das jüdische Gemeindehaus überstanden, Pogrome und Krieg der Nazis überlebt, nur um am Ende Platz machen zu müssen für eine Tiefgarage. Warum sich 1981 eine Mehrheit für den Abriss der Synagoge in der bayrischen Kleinstadt Gunzenhausen fand, weiß keiner so genau. Vermutlich war es eine banale Mischung aus knappen Gemeindekassen und Geschichtsvergessenheit, die dem einstigen Zentrum des Gunzenhausener Judentum das Ende bereitete. Sicher ist: Wie der Synagoge von Gunzenhausen erging es im Nachkriegsdeutschland Hunderten ehemals jüdischen Gebäuden.

Denkt man an die Zerstörung jüdischer Sakralbauten in Deutschland, landet man in der Regel bei den Novemberpogromen von 1938. Rund 1400 Synagogen und Betstuben wurden in der Nacht vom 9. auf den 10. November zerstört. Weniger bekannt ist, dass über 1000 jüdische Gemeindehäuser Pogrome und Krieg überstanden, nicht aber Bauwut und Ignoranz im Nachkriegsdeutschland. Viele Synagogen wurden nach 1945 bis zur Unkenntlichkeit umgebaut - zu Pferdeställen, Warenlagern, Geräteschuppen, Scheunen oder Feuerwehrhäusern. Andere wurden zu Kirchen umgeweiht. Weit über hundert Gebäude wurden ganz abgerissen.

Dass die Geschichte vieler ehemaliger Synagogengebäude überhaupt bekannt ist, ist Menschen wie Joachim Hahn zu verdanken. Der Pfarrer forscht seit den 80ern zur Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland. Er erklärt, wie rücksichtslos vielerorts mit jüdischem Kulturerbe umgegangen wurde. »Rundbogenfenster und andere Merkmale von sakralen Gebäuden wurden beseitigt, Inschriften entfernt. Oft wurde bewusst unkenntlich gemacht, dass es sich um Synagogen handelte«, sagt Hahn. Sensibilität gegenüber der Geschichte der Gebäude habe es nur in Ausnahmefällen gegeben, etwa wenn in Synagogen noch christliche Relikte früherer Kirchenbauten zu erkennen waren.

Die Folgen dieser Zerstörung hat auch Thea Altaras untersucht. In ihrem erstmals 1988 aufgelegten Buch »Synagogen in Hessen - Was geschah seit 1945?« hat sie akribisch die Geschichte jüdischen Gemeindelebens rekonstruiert. Allein in Hessen hatten 223 von 363 Synagogengebäuden die Nazizeit überstanden. 59 von ihnen wurden erst nach dem Krieg abgerissen. Die meisten anderen verfielen oder wurden zweckentfremdet. Von einer Zerstörung »erschreckender Dimension« schreibt die 2004 verstorbene Altaras.

Warum so viele Synagogen den Terror der Nazis überhaupt überstehen konnten, hat viele Gründe. Der wichtigste: Der Niedergang jüdischen Gemeindelebens begann lange vor 1938. Infolge zunehmender Verfolgung hatten viele Juden und Jüdinnen bereits in den Jahren zuvor ihre Heimat verlassen oder waren gezwungen, Synagogen zu Spottpreisen zu verkaufen. Als in der Pogromnacht die Truppen von SA und SS durchs Land zogen, wurden viele ehemalige Synagogen schon gar nicht mehr als solche genutzt und entgingen deshalb der Zerstörung. In anderen Fällen retteten engagierte Einzelpersonen oder die Sorge, der Brand könne auf Nachbarhäuser übergreifen, die Gebäude.

So auch im bayrischen Gunzenhausen. 1883 im neuromanischen Stil und mit zwei imposanten orientalischen Zwiebeltürmen gebaut, galt die Synagoge als Wahrzeichen der Stadt. Der Plan von SA-Truppen, sie am Morgen des 10. November 1938 niederzubrennen, scheiterte am Leiter der örtlichen Feuerwehr und der engen Bebauung der Straße. Den Krieg überstand das Gebäude als Kriegsgefangenenlager. Nach dem Krieg wurde es zum Kaufhaus und zur Werkhalle umfunktioniert. 1981 erfolgte schließlich der Abriss. An der Stelle der Synagoge befindet sich bis heute eine Tiefgarageneinfahrt.

Auch wenn sich bis in die heutige Zeit ähnliche Fälle finden lassen, ist der Abriss der Synagoge von Gunzenhausen eines der krassesten und spätesten solcher Fälle. Prägten Verdrängung und Schuldabwehr in den 1950er und 1960er Jahren noch den Umgang mit dem Thema, sorgten vielerorts die 68er für ein langsames Umdenken. Kinder fragten nach der Verantwortung der Eltern. Kirchengemeinden suchten den christlich-jüdischen Dialog. Anwohner gründeten Fördervereine. Wachsende jüdische Gemeinden machten Druck auf Erinnerungspolitik und Denkmalschutz.

An vielen Orten, an denen Synagogen nach dem Krieg abgerissen wurden, erinnern heute zumindest Gedenktafeln an das einstige jüdische Gemeindeleben. Vielerorts setzen sich heute Bürgerinitiativen dafür ein, dass aus Scheunen, Lagerhallen oder Kuhställen wieder würdige Orte des Gedenkens und kultureller Begegnung werden. Und in immer mehr vergessenen und wieder entdeckten Synagogen beten und lernen heute sogar wieder Jüdinnen und Juden.

Auch Gunzenhausen hat seine jüdische Vergangenheit wieder entdeckt. Mitverantwortlich hierfür war ein Schülerprojekt, das 2003 die Geschichte der Synagoge und viele andere Orte ehemaligen jüdischen Gemeindelebens rekonstruierte. Nur die Synagoge selbst konnten die Schüler und Schülerinnen nicht wiederherstellen. Seit dem 9. November 2013, dem 75. Jahrestag der Pogromnacht, erinnern gegenüber der Tiefgarageneinfahrt zumindest einige Gedenktafeln an die früheren jüdischen Bürger und Bürgerinnen der Stadt.

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