Mehr Demokratie wagen

Kritik an Entmachtung des Parlaments in der Pandemie

Der Bundestag fühlt sich in der Corona-Krise zunehmend übergangen. Während in der Coronaleugner-Szene angesichts der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung von »faschistischen« Zuständen geredet wird, waren es außerhalb dieser Szene bislang nur wenige, die die faktische Entmachtung der Parlamente seit dem Frühjahr für bedenklich hielten. Doch seit einigen Tagen wächst die Zahl der Bundespolitiker, die für künftige Verfügungen die Rückkehr zum normalen parlamentarischen Prozedere vehement einfordern.

Das ist insofern bemerkenswert, als die Zahl der Neuinfektionen mit dem Virus Sars-CoV-2 gerade rasant ansteigt, sowohl in der Bundesrepublik wie auch in zahlreichen weiteren Ländern. Der wachsende Protest dürfte damit zu tun haben, dass das Bundeskabinett, allen voran Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), sich anschickt, die mit den Änderungen des Infektionsschutzgesetzes vom 27. März und vom 19. Mai geschaffene Möglichkeit, in einer »epidemischen Lage von nationaler Tragweite« mit Verordnungen am Parlament vorbeizuregieren, bis weit in das nächste Jahr zu verlängern.

Zahl der Patienten in Intensivstationen steigt

In Deutschland werden mehr und mehr Corona-Patienten in Intensivstationen in Krankenhäusern behandelt. Nach Zahlen des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) vom Freitag werden derzeit 1121 Patienten mit Covid-19 intensivmedizinisch behandelt. Vor einer Woche waren es noch 690, vor zwei Wochen 510 und vor einem Monat 293 gewesen. 478 Corona-Patienten werden derzeit beatmet. Demnach sind aktuell 21 736 Intensivbetten belegt. 7784 sind frei. Das sind 873 freie Betten weniger als noch vor einer Woche.

Darüber hinaus steht eine »Notfallreserve« von 12 717 Intensivbetten bereit, die innerhalb von sieben Tagen verfügbar wären. Laut DIVI-Präsident Uwe Janssens ist eine Überlastung der intensivmedizinischen Kapazitäten derzeit nicht zu erwarten. Es gebe ausreichend Betten und medizinisches Gerät. Engpass werde – wie in jedem Winter – das fehlende Pflegepersonal. dpa/nd

Allein: Es dürfte nicht so einfach werden, das durchzudrücken. Denn mittlerweile sind es politische Schwergewichte wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) und Abgeordnete von SPD, Grünen und Linkspartei und FDP gleichermaßen, die betonen, die Pandemie rechtfertige keine langfristige oder gar dauerhafte Aushebelung von Grund- und Freiheitsrechten ohne Beteiligung der Parlamente in Bund und Ländern. Auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages meldete sich Anfang der Woche mit einer Stellungnahme zu Wort, in der die aktuellen Regierungsvorhaben als »wohl nicht vereinbar mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit von Rechtsverordnungen vereinbar« bezeichnet werden.

Spahns Sonderbefugnisse

Minister Spahn verteidigte seine Pläne, im Eilverfahren die infektionsschutzrechtlichen Sonderbefugnisse der Gesundheitsministerien von Bund und Ländern zu verlängern und sogar zu erweitern. Ihm sei zwar bewusst, dass es sich bei den Maßnahmen der vergangenen Monate um die »größten Freiheitsbeschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik« und um »Zumutungen« für jeden einzelnen handele, sagte er dem ZDF am Dienstag. Gleichwohl seien die Regelungen keine »Willkür«, hätten »gesetzliche Grundlagen« und würden vom Bundestag regelmäßig »diskutiert«. Bislang sind die Sonderrechte zum Erlass von Verordnungen befristet und müssen vom Parlament regelmäßig verlängert werden. Die aktuellen würden zum 31. März 2021 auslaufen.

Bereits am Montag hatte Schäuble mit Blick auf Spahns Pläne gemahnt, »dass der Bundestag seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen muss«. Unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Wissenschaftlichen Dienstes hatte er Vorschläge gemacht, wie das Parlament stärker an Entscheidungen über Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mitwirken kann. Der Wissenschaftliche Dienst fordert, »konkrete Ermächtigungsgrundlagen für besonders eingriffsintensive und streuweite Maßnahmen« zu schaffen. Die Maßnahmen sollten befristet und Rechtsverordnungen der Regierung unter einen Zustimmungsvorbehalt des Bundestages gestellt werden. Alternativ sollte das Parlament demnach Rechtsverordnungen aufheben können.

Vertreter der Unionsfraktion monierten, Schäuble hätte doch das Gespräch mit den Abgeordneten suchen können, statt eine schriftliche Stellungnahme vorzulegen. In den anderen Parteien stießen seine Anregungen dagegen auf große Zustimmung. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, sieht ihnen gar »fast alle Forderungen« seiner Fraktion bestätigt.

Korte hatte am vergangenen Wochenende seinerseits einen Fünf-Punkte-Plan zum verfassungskonformen Umgang mit Pandemieverordnungen vorgelegt. Unter anderem fordert er darin von der Bundesregierung die Vorlage eines Berichts zur Wirksamkeit der bisherigen Maßnahmen »bis spätestens zum Winteranfang« sowie eine »umfassende Evaluationswoche« dazu im Bundestag. Zugleich müssten die einfachen Hygieneregeln, die »nachweislich etwas gegen die Ausbreitung der Pandemie bringen und eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung besitzen«, konsequent und flächendeckend durchgesetzt werden, fordert Korte.

Ähnlich äußerte sich Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne), die Spahns Pläne zugleich scharf kritisierte. Es könne nicht sein, dass sich ein Minister »eine Art unbefristete Generalermächtigung« verschaffe, sagte Roth im Deutschlandfunk.

Die FDP wiederum prescht mit Forderungen nach gänzlicher Aufhebung der »epidemischen Notlage« vor. In dieser Richtung äußerten sich in den vergangenen Tagen ihr Vorsitzender Christian Lindner und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki. Am Donnerstag legte die FDP-Fraktion einen Antrag vor. Ein darin enthaltender Maßnahmenkatalog soll dem Parlament wieder mehr Geltung verschaffen. Gefordert wird etwa, die »weitreichenden und verfassungsrechtlich zweifelhaften Verordnungsermächtigungen« einzuschränken und auf eine zeitliche Entfristung der Verordnungen zu verzichten.

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